Schattenkrieg
»Habt
Ihr
denn etwas davon gehört, wie viele Fomorer es sein könnten?«
Da war sie – die Frage! Als Blaine vorhin gesagt hatte, dass sich die Männer Sorgen machten, hatte Derrien genau gespürt, dass der Ire damit auch sich selbst meinte. Was sollte er nun tun? Einen seiner Waldläufer anlügen?
Er schüttelte den Kopf. »Meine Leute draußen haben ein paar Gerüchte gehört … das Übliche! Irgendjemand sagt eine Zahl, derNächste bauscht sie auf und der Übernächste noch einmal. Das, was am Ende dabei herauskommt, ist so glaubwürdig wie der Klatsch, den sich die Marktweiber in Trondheim erzählen. Wenn wir ihre Armee gefunden haben, werden wir mehr wissen. Bis dahin würde ich mich davor hüten, den Männern eine Zahl zu nennen.«
»Ja, Ihr habt recht.« Es gelang Blaine nicht, die Enttäuschung aus seiner Stimme zu halten.
Sie erreichten das aufgegebene Lager etwa eine Stunde später. Es lag um ein verlassenes Dorf herum und war nicht zu verfehlen. Derrien hatte es schon zehn Minuten vor ihrer Ankunft riechen können, ein Gestank, wie ihn nur eine Armee verbreiten konnte: ungewaschene Körper, der Schweiß zahlloser Marschtage, Scheiße aus dem Gedärm von zwanzigtausend Männern, vermengt mit ihrer Pisse und dem Mist von Pferden und Maultieren … Der Geruch der Lagerfeuer, die die Nacht über gebrannt hatten, ging beinahe darin unter.
Als Derrien die Überreste des Lagers sah, nickte er jedoch anerkennend. Die Spinne hatte sich (oder besser: den Männern) tatsächlich die Mühe gemacht, zum Schutz des Lagers Gräben auszuheben und Erdwälle zu errichten.
Aber was hätte ich auch anderes erwarten sollen? Der Mann ist halber Römer …
Ansonsten war das Lager nicht anders als die anderen, die er bisher gesehen hatte. Die grünen Frühjahrstriebe auf den Feldern waren zertrampelt, deutlich zeichneten sich darin glatte Quadrate ab, auf denen Zelte gestanden hatten. Dünne Rauchfahnen quollen aus den Resten der Feuer, und natürlich waren überall die Hinterlassenschaften von Mensch und Tier weder zu übersehen noch zu überriechen.
Blaine rümpfte die Nase. »Krieg stinkt.«
Derrien nickte nur und ritt weiter.
Am Dorfrand bemerkten sie, dass es bei weitem nicht so verlassen war, wie es den Anschein gehabt hatte. Hinter den leeren Fensterhöhlen versteckten sich Späher, in den Ställen befandensich Pferde. Es musste sich um die Nachhut handeln, die noch nicht aufgebrochen war. Aus einem der Häuser kam ein Krieger gelaufen und erwartete sie.
»Derrien Schattenfeind?«, fragte er in einem eindeutig walisischen Dialekt.
»Der bin ich. Wo finde ich den Kommandierenden?«
»Am Dorfplatz das größte Haus«, erwiderte er. »Wir werden von Fürst Medredydd angeführt«, fügte er noch hinzu. Unnötigerweise, denn Derrien hatte die Sonnenbrosche, die der Mann am Umhang trug, bereits bemerkt.
Derrien nickte ihm kurz zu, dann ritt er weiter.
Im Dorf selbst herrschte ziemliche Aktivität. Überall waren Krieger damit beschäftigt, Sachen zusammenzupacken und Rüstungen anzulegen. Die Pferde spürten den nahen Aufbruch und wieherten unruhig.
Auf dem Dorfplatz hingen fünf Männer am Strang. Derrien würdigte die Toten kaum eines Blickes – zu oft schon hatte er ihresgleichen gesehen, meistens Fomorer. Die hier unterschieden sich kaum von den anderen, nur dass sie frischer waren, als es Derrien gewohnt war. Auch hatte bis jetzt kein Tier Gelegenheit dazu gehabt, sich an sie heranzumachen, obwohl die Raben bereits auf den Häuserdächern saßen und ungeduldig krächzten. Der Verwesungsgeruch fehlte noch, was eine angenehme Abwechslung war.
»Gibt es viele Deserteure?«, fragte er Blaine.
Blaine schüttelte den Kopf. »Jede Nacht vielleicht ein halbes Dutzend. Ein paar sammelt die Nachhut jeden Tag ein und knüpft sie auf …« Er zuckte mit den Schultern.
Derrien nickte.
Es war immer das Gleiche. Die Männer fürchteten den ehrenhaften Tod auf dem Schlachtfeld und riskierten dafür den schmachvollen Tod durch den Strang. Er würde sie nie verstehen. Sie verrieten dabei nicht nur ihre Familien, die nach einem solchen Vorfall oft unter Verachtung und Ausgrenzung zu leiden hatten, sondernauch ihre Kameraden, denen sie in der Schlacht nicht mehr zur Seite stehen konnten.
Derrien warf einen kurzen Blick zu dem Gebäude, das ihm der Krieger beschrieben hatte. Für einen Moment stellte er sich vor, wie das Gespräch zwischen dem ernsten, strengen Medredydd und ihm ablaufen würde. Der
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