Schattenkuss
Mutter und Sternberg hatten früher etwas miteinander?«
»Ja, klar. Sie war Ulrikes Nachfolgerin.«
26
Lena ließ sich zurück in die Polster fallen. Wie Schuppen fiel es ihr von den Augen. Plötzlich verstand sie Tante Maries Antwort und Steffis Ausweichmanöver und die Bitten, die alten Geschichten ruhen zu lassen. Mama hatte ihrer eigenen Schwester den Freund ausgespannt. Sie war schuld, dass Ulrike davongelaufen war … Aber Ulrike war nicht davongelaufen … oder doch? Die tote Becky, der seltsame Brief. Doch die Drohungen kamen ja vielleicht nicht wegen Ulrike, sondern wegen Benno. In Lenas Kopf fuhren tausend Gedanken Karussell. Sie trank das Weinglas leer.
Benno setzte sich wieder neben sie. »Miles Davis. Ich hoffe, es gefällt dir.«
Lena lauschte. Leise Trompetenmusik und Klavier. Eigentlich nicht so ihr Geschmack. »Sag mal, wenn du weißt, wer Mike ist, dann kennst du sicher auch Crossi.«
Benno lehnte seinen Kopf an ihre Schulter. Er schwieg eine Weile, dann fragte er: »Wer soll das sein?«
Lena erzählte ihm, was sie von Clara erfahren hatte. Wie verliebt Crossi in Ulrike gewesen war und wie sie ihn benutzt hatte, um Mikes Aufmerksamkeit zu erringen.
Doch Benno war nur selten im Moonlight gewesen. »Ich habe wenig mit Ulrike und Steffi zu tun gehabt. Sie sind in Bad Tölz zur Schule gegangen und ich in Miesbach. Unsere Freundeskreise haben sich nicht überschnitten.« Er nahm Lenas Kopf zwischen seine Hände und musterte sie nachdenklich. Das Licht der Kerzen spiegelte sich in seinen Augen. Das Grübchen am Kinn schien tiefer zu sein. »Lena, es ist besser, wenn du die alten Geschichten ruhen lässt. Sieh dir die Gegenwart an. Sie ist schön. Oder nicht? Ich liebe dich.«
So wunderbar diese Worte auch waren und sosehr sie Lena schmeichelten, eine andere Lena, die auch in ihrem Körper hauste und sehr skeptisch war, fragte mit leiser Stimme, wie es sein konnte, dass ein Vierzigjähriger sie liebte. Also, wirklich liebte. So ganz richtig, mit aller Leichtigkeit und gleichzeitigen Schwere, die einem solchen Satz innewohnte. Dass Benno in sie verliebt war, klar, das glaubte sie sofort. So wie auch sie irgendwie in ihn verliebt war. Aber Liebe? Das war etwas anderes, Endgültiges.
An diesem Abend war Benno zurückhaltend. Sie schmusten, hörten Musik, tranken Wein. Er wiederholte seinen Wunsch nicht, mit ihr zu schlafen. Trotzdem wusste Lena, dass er noch bestand. Beiderseits.
Kurz vor Mitternacht rief Tom auf Lenas Handy an und fragte besorgt, wo sie bliebe. Es sei Zeit, nach Hause zu kommen. Benno fuhr sie bis zum Ortsschild. Dort lud er das Rad aus, gab ihr einen zärtlichen Kuss und wartete, bis sie ins Dorf geradelt war.
Steffi schlief schon, als Lena kam. Tom saß mit einem Glas Rotwein im Wohnzimmer auf seinem provisorischen Bett. Er sah angestrengt und müde aus. Lena umarmte ihn und wünschte ihm eine gute Nacht.
Bevor sie zu Bett ging, sah sie aus dem Fenster. Bei den Leitners brannte Licht im Wohnzimmer. Ob Benno noch wach war? Wurde er vielleicht gerade von seiner Mutter zur Rechenschaft gezogen?
Am nächsten Morgen erwachte Lena davon, dass die Haustür ins Schloss fiel. Hastig sprang sie aus dem Bett. Steffi war schon auf und deckte in der Küche den Tisch. Für drei Personen. Ein Stein fiel Lena vom Herzen. Anscheinend holte Tom nur beim Bäcker Semmeln. Sie ließ sich auf ihren Stuhl fallen.
Steffi brühte Kaffee auf und drehte sich nun um. »Wie wäre es mit einem Guten Morgen?«
»Das wäre eine Lüge. Ich finde diesen Morgen nämlich nicht gut und habe auch keine Lust, dir einen zu wünschen. Du brauchst mich auch nie wieder über gutes Benehmen zu belehren. Solange du dich selbst nicht daran hältst.«
Verblüfft starrte Steffi sie an. Ihr Mund stand tatsächlich einen Augenblick offen. Dann stellte sie den Wasserkessel ab. »Falls du auf die Situation zwischen mir und Tom anspielst: Das geht dich nichts an.«
»Ach nein? Ich bin nicht betroffen, wenn ihr euch scheiden lasst?« Lena sprang auf. »Meinst du, Lukas oder ich sind scharf darauf, uns zu entscheiden, ob wir in Zukunft lieber bei Papa oder dir wohnen wollen? Du machst alles kaputt. Und weshalb? Wegen so einem Dorfcasanova, der vermutlich mit jedem Mädchen in Altenbrunn im Bett war und den du auch noch deiner eigenen Schwester ausgespannt hast. Und ausgerechnet du redest ständig von Moral und Anstand. Das ist zum Kotzen!«
Lena sah, wie Steffi sich zur Ruhe zwang. Sie zog sich einen Stuhl heran und
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