Schattenkuss
über seine egozentrische Reaktion. Alles würde den Bach hinuntergehen. Ihre Familie und die Sache mit Benno. Und nicht mal Becky war da, um sich an sie zu kuscheln und streicheln zu lassen und Lena zu trösten.
»Mann, Lena, nun ist es aber gut! Schluss mit dem Selbstmitleid.« Mit einem Ruck stand sie auf, ging ins Wohnzimmer, schaltete den Fernseher ein und nach fünf Minuten wieder aus. Es kam nur Mist.
Draußen wurde es langsam dunkel, was nicht an der Uhrzeit lag, sondern an einem heraufziehenden Gewitter. Das passende Wetter zur Stimmung in der Familie Michaelis, dachte Lena, öffnete das Fenster und sah hinaus. Es war windstill, der Himmel bleigrau bezogen, die Vögel waren verstummt. Nur von irgendwoher erklang wieder das Klingeln eines Glöckchens.
Lena lehnte sich vor und spähte in den Garten. Aber nirgends war ein Fitzelchen von Odakota zu erhaschen. Ein wenig beunruhigt schloss sie das Fenster wieder.
Was anfangen mit dem angebrochenen Abend? Vielleicht das Filmmaterial mal durchsehen? Gute Idee.
Auf dem Weg zur Tür entdeckte Lena allerdings etwas, das sie von ihrem Plan ablenkte. Auf dem Couchtisch lagen Omas Fotoalben. Neugierig setzte sie sich und begann zu blättern. Hochzeitsfotos von Oma und Opa, Bilder vom Hausbau und vom Richtfest. Oma als junge Frau und schwanger mit Steffi. Zahllose Babyfotos, zunächst von Steffi, später von beiden Mädchen. Jahr für Jahr Faschingsfeste, Weihnachtsfeiern, Einschulungen und Geburtstage. Irgendwann stieß Lena auf die Fotos vom fünfzigsten Geburtstag ihres Opas. Ulrike trug einen Karomini und ein pinkes Shirt. Sah ganz schön schrill aus. Vor allem im Gegensatz zu Steffi, die Lena erst auf den zweiten Blick erkannte. Schwarze Brille, Graue-Maus-Kleid und Pferdeschwanz. Unzählige Verwandte und Freunde saßen da im Garten. Unter der Last von Kuchen und Torten bog sich ein Tisch. Im Hintergrund sah man das Grundstück der Leitners. Der Pool war ganz neu. Türkis schimmernd und bereits mit Wasser gefüllt, aber noch von Erde und Kies umgeben. Dahinter, an der Schuppenwand, lehnten einige Bäume, die Wurzelballen steckten in Jutesäcken.
Es klingelte. Lena sah auf. Aus der Küche war das Rücken eines Stuhls zu hören. Tom ging zur Tür und kam kurz darauf zu Lena ins Wohnzimmer. »Ist für dich.«
Daniel und Florian kamen, von Rebecca gefolgt, herein. »Wir wollen nach Bad Tölz ins Kino. Kommst du mit?«, fragte Daniel. Er trug eine neue Jeans und und seine Haare waren lässig verwuschelt. Sah gar nicht so schlecht aus.
Die drei kamen wie gerufen. »Gute Idee. Was wollen wir uns ansehen?«
Rebecca warf ihre langen Haare über die Schulter. »Gleich steht es zwei zu zwei. Wetten?« Herausfordernd sah sie erst Florian an und dann Lena. »Den dritten Twilight- Film, Eclipse.«
»Oh, toll! Da bin ich natürlich dabei! Ich hole nur schnell meine Sachen.«
Florian und Daniel verdrehten die Augen.
»Zwei zu zwei«, sagte Rebecca triumphierend. »Was machen wir nun? Würfeln wir es aus?«
»Was wollt ihr denn sehen?«, fragte Lena.
»Den neuen Predators. Der soll ziemlich cool sein«, meinte Florian.
Okay. Zwischen Twilight und diesem Science-Fiction-Actionfilm klafften Welten. Mal ganz abgesehen davon, dass Lena auf das Genre nicht unbedingt stand. »Auswürfeln ist vielleicht keine schlechte Idee.«
Sie suchte in Omas Schrankwand nach einem Würfel und fand ihn in der Spielesammlung. Jeder durfte einmal würfeln. Wer die höchste Punktzahl erreichte, bestimmte, welcher Film gesehen wurde. Kneifen nicht erlaubt.
»Wer fängt an?«, fragte Rebecca.
»Ladies first«, meinte Daniel.
Lena würfelte eine Drei, Daniel eine Zwei, Florian eine Fünf. Er brach schon in Jubel aus, hatte aber nicht mit Rebecca gerechnet. »Sechs!«, rief sie triumphierend. »Okay, Jungs. Habt ihr genügend Taschentücher dabei?«
»Ohrstöpsel.« Daniel zog eine so leidende Grimasse, dass Lena lachen musste. »Die werden wir brauchen, zwischen all den kreischenden Mädchen.«
Auch Florian wirkte alles andere als begeistert. »Hoffentlich erkennt uns keiner! Wir sollten Sonnenbrillen zur Tarnung tragen.«
Lena sah auf die Uhr. Wenn sie den Fahrplan recht in Erinnerung hatte, fuhr der Bus in fünf Minuten. »Wenn wir den Bus noch erwischen wollen, sollten wir uns beeilen.«
Rebecca hakte sich bei Florian ein. »Florians Vater hat uns das Auto geliehen.«
Aha. Benno war also schon zurück aus Salzburg. Warum rief er immer noch nicht an, schickte keine SMS? »Ich hol
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