Schattenkuss
losfuhr.
»Deine Mutter … Ich soll meine Dreckspfoten von dir lassen, hat sie gesagt.« Ein Klumpen setzte sich in ihren Hals. Seine Hände umfassten das Lenkrad, die Knöchel traten weiß hervor. Er sah sie nicht an, sagte kein Wort.
Sie erreichten das Ortsende, passierten den Baumarkt und das Autohaus und bogen auf den Weg zur alten Villa ab. Plötzlich entdeckte Lena Daniel, der auf dem Rad Richtung Dorfmitte an ihnen vorbeifuhr. Hoffentlich hat er mich nicht gesehen, dachte sie und rutschte automatisch in ihrem Sitz ein bisschen tiefer. Wobei – wahrscheinlich wussten sowieso schon alle von ihr und Benno. Jedenfalls die, die es betraf. Hundertpro hatte Bennos Mutter Petra informiert.
»Ich glaube, sie hat uns neulich hier beobachtet.« Benno wies auf die alte Villa, die ins Blickfeld kam. Lena wurde bei dieser Vorstellung ganz schlecht. »Normal ist das nicht, oder? Deine Mutter schnüffelt hinter dir her, als wärst du ein Schulkind. Hat ihr schon mal jemand geraten, zum Therapeuten zu gehen?«
Auf dem Weg hinter dem Haus parkte Benno. Sie stiegen aus und gingen in den Wintergarten. Die Polster lagen noch dort und in den Leuchtern steckten die halb heruntergebrannten Kerzen. Benno, der in den letzten Minuten geschwiegen hatte, setzte sich. Er zog Lena zu sich und sie ließ es geschehen. Sie war plötzlich so müde. Benno streichelte ihre Arme und den Rücken. Und obwohl Lena sich gerade noch nach ihm gesehnt hatte, empfand sie in diesem Moment nur eine dumpfe Verzweiflung. Was würde werden? Sie hatte keine Ahnung. Vermutlich würde es bei einer Art Sommerromanze bleiben. Unwillkürlich musste sie lächeln. So ein altmodisches Wort und doch beschrieb es das, was sie eigentlich empfand. Eine Verliebtheit, eine romantische Zeit, die sich langsam ihrem natürlichen Ende zuneigte. Benno war zu alt für sie, er war verheiratet und er stand unter der Fuchtel seiner Mutter, ließ sich von ihr wie ein kleiner Junge kontrollieren und kommandieren. Das war es, was sie am meisten störte. Die Schwierigkeiten, in denen sie nun steckten, würden sie nicht zusammenschweißen. Ganz im Gegenteil.
Benno musterte sie von der Seite. Er schwieg noch immer, wirkte verschlossen und in sich gekehrt. Hatte sie ihn gekränkt, als sie sagte, seine Mutter gehöre zum Psychiater auf die Couch?
»Weißt du, früher habe ich immer gedacht, sie ist eine Löwin«, begann Benno ganz unvermittelt. »Mein Vater ist im See ertrunken, da war ich fünf Jahre alt. Plötzlich stand sie ganz alleine da und musste zusehen, wie sie die Schreinerei am Laufen hielt und mich großzog. Sie hat gekämpft und sie hat es geschafft. Allerdings hat sie einen Fehler gemacht, indem sie mir immer alle Steine aus dem Weg räumte. Das war zwar gut gemeint …« Mit der Hand fuhr er sich über die Stirn, schloss die Augen. »Aber es fällt mir noch heute schwer, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen. Sie kann einfach nicht loslassen und sieht nicht, dass ich längst nicht mehr der kleine Junge bin, der ihre Liebe und Fürsorge braucht … Vielleicht hat sie Angst, dann überflüssig zu sein … ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass sie bis heute die Regie in meinem Leben führt … das ist mir erst in den letzten Tagen so richtig klar geworden. Nur einmal habe ich mich gegen sie durchgesetzt, damals, als ich Petra geheiratet habe.«
»Du musst sie sehr geliebt haben«, sagte Lena.
Benno richtete sich auf, schlang die Arme um die Knie. »Eigentlich nicht. Ich habe Petra nie wirklich geliebt. Anfangs war sie wie eine Art … eine Art Medizin. Sie hat mich geliebt und das hat mich von meinen Komplexen geheilt und dann war sie plötzlich schwanger und wollte, dass wir heiraten. Meine Mutter war dagegen. Und das hat mich angestachelt. Eine sehr kurze und sehr verspätete Pubertät.« Ein trocknes Lachen folgte diesem Satz.
Was für Komplexe denn?, fragte Lena sich. Seltsamerweise löste Bennos Geständnis kein Mitgefühl bei ihr aus, vielmehr war es, als trete sie innerlich einen Schritt zurück. Was für ein erbärmliches Leben er führte. Verheiratet mit einer Frau, die er nie geliebt hatte, unter der Fuchtel seiner Mutter, die ihn nicht loslassen konnte. Und welche Rolle spielte sie in diesem Drama? Benno schien sie für eine Art rettenden Engel zu halten. Sie sollte ihn da herausholen? Nein. Das konnte sie nicht. Das wollte sie nicht. Das war eine Nummer zu groß für sie. Gleichzeitig erschrak Lena über diese Gedanken. Benno! Er war
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