Schattenlord 12 – Lied der sieben Winde
sich keine Gedanken darüber?«, warf Andreas ein.
»Wozu?« Aswig glaubte die Antwort zu wissen. »Er ist untot und nimmt an, das gehört dazu. Er stellt keinen Zusammenhang zum Fluch her. Vielleicht kann er das gar nicht, weil der Fluch es verhindert, entdeckt zu werden.«
»Er schützt sich ... um nicht entfernt werden zu können.« Laura trommelte mit den Fingern auf die Sesselkante. »Ich hatte mich gefragt, was diese Zeichen zu bedeuten haben, wieso ein derart grobschlächtiger Mann wie er ein so kostbares, feines Kleidungsstück trägt, vor allem in dieser untoten Erscheinung.«
»Jetzt bin ich ratlos«, gestand Andreas.
»Es ist das Wams«, sagten Laura und Aswig gleichzeitig.
Nachdem sie es ausgesprochen hatten, schwiegen sie und lauschten ängstlich. Manchmal genügte nur ein Wort, um die Katastrophe heraufzubeschwören. In diesem Fall wurde der Weg immer gefährlicher, den sie beschritten. Wenn Fokke dahinterkam, was sie hier taten, würde er keine Zurückhaltung mehr kennen und sie alle drei leer trinken.
Andreas huschte hinaus. Und kam genauso schnell wieder herein.
»Es ist merkwürdig, aber ... er merkt es nicht.«
»Glück gehabt«, sagte Laura. »Darum hast du auch kein Problem mit dem Schweigebann, Aswig.«
»Aber ... was hat es mit diesem Wams auf sich?«
»Sind dir niemals diese zarten Seidenapplikationen aufgefallen, diese glänzenden Symbole und Muster?«, gab Laura zurück.
Andreas schüttelte den Kopf. »Ich hab es mir nie so genau angeschaut, und wenn möglich dafür gesorgt, dass immer viel Abstand zwischen uns ist.«
»Und«, sagte Aswig, »es sind gar keine Muster und Symbole, sondern Schriftzeichen. Winzig klein gestickte Wörter.« Er stockte, dann begann er zu strahlen. »Ich kann darüber reden! Wahnsinn! Ich wollte das schon so lange jemandem erzählen, konnte es aber nie.«
»Hast du diese Worte etwa lesen können?«, fragte Laura erstaunt.
Aswig nickte lebhaft. »Durch das elfische Erbe in mir. Natürlich habe ich eine Weile gebraucht, um die Buchstaben entziffern zu können, weil es ja eine fremde Sprache ist. Aber ich habe schreiben und lesen gelernt im Laufe meiner Wanderung, es gab immer ein paar freundliche Gelehrte, die mich unterrichtet haben. Ich konnte den Käpt'n beim Schreiben beobachten und habe mich getraut, ihn danach zu fragen, was er schrieb. Er erklärte mir ein paar Wörter und sagte dazu, dass sie in seiner Schrift und seiner Sprache seien. Daraufhin hatte ich es mir zur Aufgabe gemacht, die Wörter zu entziffern.«
»Aber Aswig«, stieß Andreas fassungslos hervor, »hast du denn nie kapiert, was die Wörter zu bedeuten hatten?«
Der Schiffsjunge schüttelte den Kopf. »Ich konnte die einzelnen Wörter lesen, aber nicht in Zusammenhang bringen. So konnte ich keinen Sinn erkennen. Das war wohl ein Teil des Schweigebanns.«
»Ironie des Schicksals«, sagte Laura und winkte ab. »Und ich habe gelernt, dass es eine Menge Voraussetzungen braucht, um solche Dinge lösen zu können. So wie das mit dem Verschollenen Palast.«
»Was ist das nun schon wieder?«
»Er liegt angeblich neben Morgenröte, und dort sollen sich die wahren Herrscher befinden. Erst meine vielen Irrwege und Prüfungen haben zu dieser Kenntnis geführt. Hier in Innistìr geschieht nichts auf direktem Weg, das muss man sich erarbeiten, und zwar über viele Hürden und Umwege. Ich schätze, dass nicht nur der Schweigebann dran schuld ist, sondern auch der Selbstschutz des Fluches.«
Sie ging zum Tisch und tauchte die Feder in die Tinte. »Aber jetzt, da wir bis hierher gekommen sind, werden wir dieses letzte Rätsel lösen. Es ist so weit. Sag die Worte, Aswig, wie du sie dir gemerkt hast, und ich schreibe sie auf.«
Nach und nach begriffen Laura und Andreas, wieso Aswig die Bedeutung nie verstanden hatte. Die Worte waren nicht chronologisch eingestickt worden. Wegen des Schweigebanns war Aswig nicht in der Lage gewesen, die Wörter zu rekapitulieren und aufzuschreiben. Er hatte sie im Gedächtnis, brachte sie aber nicht heraus.
Nachdem er geendet hatte, fing der knifflige Teil der Aufgabe an. Sie mussten die Wörter in die richtige Reihenfolge bringen. Gar nicht leicht, da sie in mittelalterlichem Niederländisch aufgeschrieben waren. Mittels Lesen allein konnten sie diese Sprache nicht verstehen; sie wurde erst durch lautes Sprechen durch die Magie Innistìrs, die alle Sprachen übersetzte, verständlich.
Da Laura und Andreas beide Englisch konnten, übersetzten sie gemeinsam
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