Schattenlord 12 – Lied der sieben Winde
bleiben.
Anschließend nickte er, nach vorne gebeugt, wieder ein. Es gab ohnehin nichts für ihn zu tun, und sich ständig den Kopf über die Lage zu zerbrechen war nicht kräftefördernd.
Finn erwachte, als er eine Bewegung spürte. Ein Matrose stellte ihm die nächste Mahlzeit bereit. War etwa so viel Zeit vergangen? War es draußen schon wieder oder noch immer hell? Durch schmale Ritzen der Deckplanken fiel gerade so viel Licht herein, dass er einigermaßen erkennen konnte, was um ihn herum geschah.
»Wie geht es meinen Mitgefangenen?«, fragte er den Matrosen. Er hätte mit einem Sklaven gerechnet, aber das hätte wahrscheinlich keinen Unterschied gemacht. Die Matrosen waren auch nicht freiwillig hier.
Der Mann schwieg.
»Bitte!«, flüsterte Finn. Seine Stimme war rau, und er hatte ein Kratzen in der Kehle. »Wir sind hier, um euch zu befreien.«
Das entlockte dem Matrosen ein abfälliges Grinsen. »Aber sicher doch«, antwortete er. »Ihr habt euch freiwillig gefangen nehmen lassen.«
»Allerdings. Oder haben wir etwa Widerstand geleistet? Ich weiß nicht, ob du dabei gewesen bist, aber deine Kumpels waren ganz schön enttäuscht, als wir uns einfach ergeben hatten und es keinen Kampf gab.«
Der Matrose, der sich bereits abgewandt hatte, verharrte unschlüssig. »Und wie habt ihr euch das vorgestellt?«
»Laura ist der führende Kopf. Sie hat Fokke im Schach besiegt.« Finn rutschte so weit vor, wie es die Kette zuließ. »Bitte, sag mir nur, wie es meinem Freund Milt geht!«
»Er ist die meiste Zeit über bewusstlos, aber es wirkt nicht lebensgefährlich. Zumindest nimmt er zu sich, was wir ihm hinstellen. Ich verstehe sowieso nicht, weshalb Fokke diesen Aufwand mit euch veranstaltet.«
»Er will länger etwas von uns haben, schließlich stammen wir aus seiner alten Heimat. Und es gibt ja kaum mehr eine Herausforderung für ihn.«
»Du glaubst, er sieht euch als Herausforderung an?«, spottete der Mann. »Niemand kann ihm entkommen, verstehst du? Niemand! «
»Wir sind es schon einmal«, erwiderte Finn. »Denk darüber nach.«
Der Matrose stampfte ohne ein weiteres Wort hinaus. Finn wusste, dass er tatsächlich darüber nachdenken würde, welche Möglichkeiten sich durch diese Gefangenen boten. Ob es nicht vielleicht doch noch Hoffnung gab.
Meuterei war ein hässliches Wort. Aber vielleicht sollte Finn die Mannschaft behutsam darauf vorbereiten, dass daraus auch Gutes entstehen konnte.
Darüber dämmerte er wieder ein.
Erneut schreckte Finn hoch, als er eine Bewegung spürte. Er stöhnte auf, weil durch die ruckartige Bewegung einige gerade heilende Wunden auf seinem Rücken wieder aufrissen. Finn fühlte es warm hinablaufen, und die Paste bröckelte ab.
»Sch-scht«, erklang eine helle Stimme. »Ich bin es, nur die Ruhe.«
Finn blinzelte und erkannte einen etwa vierzehnjährigen Jungen mit blassblauen Augen, filzigen braunen Haaren, mager und blass. Ein misstrauischer Ausdruck lag in seinen Augen, den er wahrscheinlich immer trug, und seine Haltung war scheu, jederzeit auf dem Sprung.
»Du ... du bist der Schiffsjunge, nicht wahr?«, flüsterte er. »Aswig?«
Etwas blitzte in den Augen des Jungen auf. »Du weißt meinen Namen?«
»Ich kenne dich.« Finn lächelte, so freundlich er konnte. »Außerdem haben Nidi, Sandra und Luca von dir erzählt.«
»Wirklich?« Der Junge blickte sich ängstlich um, dann huschte er zur Tür, verschloss sie und rückte aufgeregt näher zu Finn. »Wie geht es ihnen?«
Über Finns Gesicht fiel ein Schatten. »Sandra ... ist gestorben.«
Aswig presste kurz die Lippen zusammen. »Ich weiß. Ich habe ihre Seele ankommen sehen. Ich wollte nur nicht, dass du es ... so erfährst, falls es dir nicht bekannt war.«
»Du ... du kannst die Seelen sehen? «, flüsterte Finn verblüfft.
Der Schiffsjunge nickte. »Kramp auch. Aber er weiß nicht von mir. Ich hab's niemandem gesagt.« Er fuhr sich durch die Filzwolle auf seinem Kopf. »Tut mir leid wegen Sandra. Sie war sehr traurig, als sie hier ankam.«
»Kann sie sich erinnern?«
Aswig verneinte. »Zum Glück nicht. Das hat bisher erst einer geschafft. Andreas ...«
»D... der ist auch hier?«, stotterte Finn. Er war wie vor den Kopf geschlagen. Sutter war eines Tages verschwunden gewesen, und niemand hatte ihn je wiedergesehen. Gewiss, man hatte davon ausgehen müssen, dass er gestorben war und sein Körper sich aufgelöst hatte; dennoch war es ein Schock, zu erfahren, dass auch seine Seele hier gefangen
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