Schattenlord 12 – Lied der sieben Winde
ihre Undankbarkeit. Doch meine Mutter wollte mehr, wollte nicht ihr Leben lang immer auf dieselbe Weise als niedrige Dienerin, die kaum mehr Rechte als eine Sklavin besaß, dahinvegetieren. Sie nahm sich vor, einen Weg zu finden, sobald sie alt genug wäre, um die Stadt zu verlassen und zu verreisen, weit fort.
Diese Sehnsucht wurde Jahre später durch einen Elfen verstärkt. Meine Mutter wurde inzwischen auch zur Bedienung eingesetzt, und so bediente sie häufig einen Elfen, der für einige Zeit regelmäßig in der Taverne einkehrte. Im Gegensatz zu den meisten anderen Gästen fiel ihm die erblühende Schönheit meiner Mutter, aber auch ihre Ruhelosigkeit auf, und er verwickelte sie ins Gespräch. Er war ein raubeiniger Kerl mit so manchen Narben und nicht mehr allzu jung. Auf eine seltsame Weise freundeten sie sich an, weil der Elf offenbar jemanden gesucht und nun gefunden hatte, der ihm bedingungslos zuhörte. Er war ein sehr einsamer Mann, der keine Freunde zu haben schien. Und so erzählte er ihr neben seinen täglichen Ärgernissen, die er loswerden wollte, auch von seinem früheren Leben, bevor es ihn hierher verschlagen hatte.
Er war einst ein seefahrender Elf gewesen, aber natürlich nicht in diesem Reich mit seinen viel zu kleinen Seen und Flüssen, sondern tatsächlich drüben, hauptsächlich auf den großen Meeren in der Menschenwelt, wo die Reinblütigen herkamen. Er berichtete von wochenlangem Segeln ohne Land weit und breit und Gegenden, die meiner Mutter überaus exotisch vorkamen, und von den Menschen dort sowie ihren Sitten und Gebräuchen. Meine Mutter konnte nicht genug von diesen Geschichten hören, hing an den Lippen des Elfen und sehnte sich danach, eines Tages diese Welt zu erkunden.
Aber wie es oft so ist, kam alles ganz anders. Der Oberste Mäzen hatte nämlich den Vorfall keineswegs verziehen oder vergessen, sondern mit seiner Entscheidung einen bestimmten Zweck verfolgt.
Es ist nämlich keineswegs so, dass der Herrscher der Stadt auf ewig in seinem Amt bleibt, sondern es findet zu bestimmten Zyklen ein Wechsel statt. Diesen Zeitpunkt bestimmt das Füllhorn, und dazu fordert es ein ganz bestimmtes Opfer. Es ist ein Ritus für eine neue Inthronisation, der großartig begangen wird. Das Opfer ist eine Jungfrau.
Es ergab sich, dass die Tochter des Obersten Mäzens nunmehr genau im richtigen Alter war und, weil er streng auf sie aufpasste, immer noch Jungfrau. Er war schon damals auf der Suche nach einem geeigneten Ersatzopfer gewesen, weil er gar nicht daran dachte, seine eigene Tochter zu opfern. Meine Mutter war genauso alt wie die Prinzessin und ebenso behütet aufgewachsen, trotz Badehaus und Taverne, trotz ihres hübschen Aussehens. Der Oberste Mäzen hatte die Familie die ganzen Jahre überwacht – bis zu diesem Zeitpunkt, da Mutter fünfzehn Jahre alt wurde und das Ritual anstand. Das sollte also die Sühne werden für den einstigen Skandal. Und nicht nur das: Ein geeigneter Nachfolger war nicht in Sicht, denn sein Sohn war noch nicht volljährig, und alle anderen Anwärter hatte er beseitigt. Der Oberste Mäzen würde dem Füllhorn demnach Genüge tun, seine Tochter behalten und sich selbst wieder einsetzen.
Das wussten meine Großeltern zu diesem Zeitpunkt aber nicht, als sie zu den Feierlichkeiten in den Palast eingeladen wurden. Doch meine Mutter fand es heraus, als sie im Schenkraum die Tische abräumte und Hofschranzen, die als Gäste eingekehrt waren, darüber reden hörte. Es war das Stadtgespräch schlechthin. Da die Gäste nicht wussten, dass sie das Ersatzopfer sein sollte, sie nicht einmal wahrnahmen, weil sie ja nur eine Schenkmaid war, sprachen sie unbefangen über die umherschwirrenden Gerüchte, und meine Mutter hörte jedes Wort mit. Und begriff.
Deshalb also waren sie und ihre Eltern zu diesem bestimmten Tag in den Palast geladen worden! Die Eltern sollten dabei zusehen, wie die Tochter geopfert wurde!
Meiner Mutter blieb nicht mehr viel Zeit. Ihren Eltern konnte sie sich nicht anvertrauen, die würden ihr nicht glauben. Nach all den Jahren hatten sie immer noch nicht begriffen, wie verkommen und faulig die Stadt unter der schönen Fassade war.
Was tat sie also? Sie hoffte darauf, dass ihr Freund, der Elf, an diesem Abend in die Taverne kommen würde – und so war es auch. Inzwischen schien er sich auf diese Begegnungen genauso zu freuen wie sie, deshalb konnte sie sich ziemlich darauf verlassen, dass er kam und sich an seinen üblichen Tisch in ihrem
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