Schattenlord 12 – Lied der sieben Winde
derselben Welt. Weil sie sie gekannt hatte, zumindest zum Teil.
Sie stieß einen leisen Laut des Schreckens aus, als die erste Hand aus dem Nebel herausschoss, gekrümmt wie eine Klaue, und ihren Arm packte. Gefasst auf neuerlichen entsetzlichen Schmerz des Kältebrands, erfolgte aber nichts dergleichen.
Sondern etwas ganz anderes.
Diesmal wurde nicht ihr Körper, sondern ihr Geist angegriffen. Eine Flut an Bildern strömte auf sie ein, die sie in ein Chaos aus Emotionen stürzten.
Sie durchlebte sie. Die letzten Erinnerungen der Menschen.
Immer mehr Hände packten sie, und immer mehr Erinnerungen waren es, und nicht eine einzige schöne war darunter. Bei den meisten waren es die letzten Momente ihres Lebens, erfüllt von Einsamkeit und Angst bis zum abrupten Entreißen der Seele, aber auch andere Fetzen waren darunter. Von den schlimmsten Momenten in ihrem Leben, und diese wollte niemand erneut erfahren. Am wenigsten Laura, die sie in geballter Ladung, vielfach, in einer zerstörerischen Wucht entgegengeschleudert bekam. Erinnerungen an Unfälle, an Gewalt, Angst, Tod und Verzweiflung, an gebrochene Herzen, an Demütigungen, an Arbeitslosigkeit, Verlust.
Laura weinte und schluchzte, doch sie ließen nicht von ihr ab, entluden alles, was sie als Last mit sich herumtrugen.
Das war es, was Fokke gemeint hatte. Niemand konnte das bei heilem Verstand überstehen. Laura erkannte, dass es ihr nicht anders ergehen würde.
Ein letztes Mal bäumte sie sich auf, bevor sie im Wahnsinn versank. Ich finde immer meinen Weg. Ich öffne die Tür und gehe hinaus. Ich lasse das hinter mir.
Sie klammerte sich an ihre eigenen Erinnerungen, zu Beginn ihres Aufenthaltes in Innistìr, als die Elfen herausgefunden hatten, dass Laura eine besondere »Pfad-Finderin« war. Und egal wohin sie gegangen war, sie hatte immer ihren Weg gefunden, selbst im Ohnenamenland.
»Nein!«, schrie sie und riss sich in einer gewaltigen Kraftanstrengung los, warf sich herum und rannte davon. Ob es möglich war, sie wusste es nicht, aber sie konnte nicht mehr verharren. Das war schlimmer als der Schmerz zuvor. Sie musste fliehen.
Die Seelen der Gestrandeten folgten ihr unerbittlich, drohten ihr, dass sie nicht entkommen könne, niemals.
Ich werde es wenigstens versuchen. Laura rannte weiter, während in ihrem Verstand Chaos herrschte und sie versuchte, die grellen Erinnerungsblitze auszuschalten, wegzusperren, wo sie niemand mehr finden würde, wenn sie sie schon nicht vergessen konnte.
Dabei achtete sie nicht genug auf den Weg und sah den Arm zu spät, der aus dem Dunst heraus auf sie zugeschossen kam und sie festhielt. Sie versuchte sich loszureißen, doch stattdessen holte sie die Seele nur noch näher zu sich her.
Eine zarte Gestalt, jung und unschuldig, mit einem Hauch von Farbe in den Augen, jedoch blassen, toten Lippen.
»Oh Gott!«, stieß Laura hervor. »Sandra ...« Eine Flut von Bildern stürzte erneut über sie herein.
Andreas hatte gesagt, dass sie sich nicht mehr erinnern könne!
Nein ... sie erinnerte sich nicht an sich selbst, das konnte Laura spüren. Und sie schaute fremde Bilder, verschwommen und wie von fern, die nichts mit Sandra zu tun hatten.
»Du hast ihn enttäuscht«, flüsterte das Mädchen, dessen Tod noch nicht einmal Tage zurücklag. »Verraten.«
Laura begriff sofort. »Nein«, sagte sie schnell. »Denk nicht daran, Sandra! Du bist frei! Du bist Sandra Müller, erinnerst du dich? Du hast einen Bruder, Luca, und deine Eltern sind Angela und Felix. Du hast Zoe bewundert und wolltest auch Model oder sogar Schauspielerin werden!«
»Verrat«, wiederholte die Seele des Mädchens mit einer fernen Stimme, die nicht zu ihr gehörte. Es war der Schatten, der auf ihrer Seele lastete, der sie in Besitz genommen und missbraucht hatte und dann ermordet, als sie nicht den Nutzen erbracht hatte, den er verlangte. Der Schattenlord. Sein fauliger Abdruck lastete auf ihrer Seele und beschmutzte sie.
»Er ist es nicht«, wiederholte Laura eindringlich. »Das ist nur ein schwacher Hauch, ein Fetzen Erinnerung, nicht er selbst! Er besitzt dich nicht mehr! Du bist wieder Sandra!«
Doch kein Erkennen tastete sich in die durchsichtigen Augen des Mädchens.
»Es ist kalt und leer. Eine ungeheure Enttäuschung. Unendliche Verdammnis.«
»Sandra, finde zu dir! Andreas hat es auch geschafft! Du kannst es!«
»Er wird dich finden. Du gehörst ihm. Für immer.«
»Oh nein«, erwiderte Laura, während ihr die Tränen über die Wangen
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