Schattenlord 12 – Lied der sieben Winde
weinte sie, bei der vierten hatte sie das Gefühl, ihr Innerstes würde sich nach außen stülpen. Bei der fünften Berührung ging sie zu Boden.
Als zuckendes, wimmerndes, zusammengekrümmtes Bündel lag sie im Nebel, der sie aber nicht in einen rettenden Abgrund stürzen ließ, und die Seelen beugten sich über sie und legten ihre Hände auf sie.
Ich habe mich geirrt, dachte sie. Ich werde daran sterben. Das kann ich nicht aushalten.
Keine gnädige Ohnmacht holte sie da raus. Als würde mit glühenden Messern in ihren Leib geschnitten und sie gleichzeitig vereist. Doch dann ... dann ließ es auf einmal nach.
Laura blinzelte den Tränenschleier vor ihren Augen fort, um herauszufinden, weshalb der Schmerz auf einmal weniger wurde. Die Seelen zogen sich zurück, und etwas Erstaunliches geschah. In den Schattenhänden tanzte ein kleiner Funke, und den gaben sie weiter an andere. Und damit entfernten sie sich von ihr.
Zitternd und schwach stemmte Laura sich hoch. Sie hatte den geschundenen Seelen offenbar etwas gegeben, was sie tröstete und die Kälte nicht mehr so schlimm empfinden ließ. Sie hingegen fühlte sich völlig ausgelaugt und niedergeschlagen. Aber sie hatte den Schmerz überstanden. Nur das Triumphgefühl deshalb wollte sich nicht einstellen.
Und was jetzt? Suchend sah sie sich nach Andreas um. Wieso zeigte er sich ihr nicht mehr?
Weiterwandern. Das kannte sie ja schon. Die einzige Möglichkeit, aus einer solchen Zwischenwelt wieder herauszukommen, war, in Bewegung zu bleiben. Irgendwohin zu gehen. Im Gegensatz zu den Seelen hatte sie ein Ziel, und sie gehörte auch nicht hierher. Früher oder später würde diese Welt sie sowieso abstoßen.
Sie ging los, einfach immer geradeaus, und konnte sich ungehindert bewegen. Durch den ewigen Dunst hindurch sah sie viele kleine Lichter blinken. Wahrscheinlich würden sie bald erlöschen, doch vielleicht reichte die Erinnerung an die Linderung ein wenig länger. Falls die Erinnerung überhaupt bleiben konnte, denn Andreas' Worten zufolge wussten die meisten Gefangenen nichts mehr von früher, sondern klagten nur über die Kälte und das Nichtwissen.
Ich will hier raus.
Laura dachte intensiv daran. Und hatte den Eindruck, als würde sie tatsächlich eine Richtung einschlagen. Ihre Beine bewegten sich wie von selbst und schienen zu wissen, wohin. Laura überließ sich erneut ihrem Instinkt.
Doch dann kam sie in eine andere Zone. Sie konnte es spüren: Das war nicht der Weg zurück in die Welt der Lebenden, sondern er führte tiefer hinein in den Tod.
Gut gemacht, Laura.
Wieder einmal hatte sie sich für schlau gehalten, und wieder einmal wurde sie eines Besseren belehrt. Sie schluckte. Umkehren kam nicht infrage, eine derartige Option bestand nicht in einer Welt wie dieser. Auch hier musste sie hindurch.
Der Nebel verdichtete sich und wurde dunkler, das Leuchten in seinem Inneren ließ nach. Laura tastete sich hindurch, obwohl es hier kaum Hindernisse geben sollte, doch sie hatte Mühe, sich zu orientieren – in der Hinsicht, schlicht geradeaus zu gehen.
Bevor sie sie sehen konnte, spürte sie auf einmal die Seelen, die sich hier aufhielten. Groß und düster, bisher unangetastet und noch nicht völlig selbstvergessen. Sie waren nicht so lange hier, hatten vielleicht nach dem ersten Schock wieder einigermaßen zu sich gefunden.
Sie kamen auf Laura zu. Augenblicklich blieb sie stehen. Sie konnte ihnen nicht entkommen oder vor ihnen davonlaufen. Also brachte sie es am besten gleich hinter sich.
»Was willst du hier ...?«, flüsterte es aus dem Nebel heraus. »Du bist lebendig, du hast hier nichts verloren.«
»Aber ihr habt euch verloren«, sagte Laura zitternd. »Ich bin gekommen, um euch zu befreien.«
»Unmöglich.«
»Doch ist es möglich, wenn ich euren Peiniger beseitige. Vernichte. Dafür sorge, dass er nie wieder sein Unwesen treiben wird und nie wieder Seelen fangen.«
Sie rückten noch näher, bedrohlich, misstrauisch. Sie glaubten ihr nicht. Das konnte Laura ihnen nicht verdenken.
Ihr wurde schwindlig, als sie Weggefährten erkannte, die bereits kurz nach dem Absturz gestorben waren, und einige, denen sie bei ihrem ersten Aufenthalt auf dem Teufelsschiff begegnet war. Genauso wie damals bedrohten sie sie auch jetzt. Die Seelen der Menschen Innistìrs hatten ihr nichts antun können, außer ihr den Schmerz der Verzweiflung zuzufügen. Doch diese hier waren erfüllt mit Zorn und ihr nur allzu vertraut, zu nah, zu verwandt, weil von
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