Schattenlord 6 - Der gläserne Turm
Männer kamen näher, jeden Moment mussten sie die Treppe erreichen.
Nidi biss sich auf die Unterlippe, verfluchte seinen kleinen, schwachen Körper. Er wusste, dass er keine Wahl hatte, er musste es mit Magie versuchen, auch wenn er nicht wusste, ob diese Welt ohne Mond ihm genügend Kraft schenken konnte. Wenn er versagte, das war ihm klar, würden Laura und er in dieser Hütte sterben.
Er ballte die Hände und starrte die Tür an, zwang sich zur Konzentration. Ein Atemzug, zwei - die Treppe knarrte unter ihm -, dann riss er die Arme in die Höhe.
Mit einem Knall schloss sich die Tür. Der Strick knotete sich um den Eisenring. Fäuste schlugen von unten gegen das Holz, Stimmen brüllten und fluchten.
Nidi wollte zu Laura laufen, doch seine Knie gaben nach. Ihm war schwindelig, sein Herz raste. Der Zauber hatte wohl in der Welt nicht genügend Kraft gefunden und sie stattdessen aus Nidi geschöpft.
Das hätte mich umbringen können, dachte der Schrazel, während er wieder auf die Füße kam und langsamer als zuvor zum Podest ging. Er kletterte hinauf und stieß Laura an.
»Wach auf.«
Sie reagierte nicht.
Nidi zögerte. Er sah, dass sich Lauras und Harlenns Hand berührten und vielleicht auch eine geistige Verbindung herstellten, aber er wagte es nicht, sie zu trennen. Es war zu gefährlich. Wenn Lauras Geist nicht mehr in ihrem Körper war, würde sie nie wieder zurückfinden.
»Wach auf«, wiederholte er. »Bitte wach auf.«
Hinter ihm warfen sich die Männer von unten gegen die Falltür. Eine Faser des Stricks, der den Eisenring festhielt, riss.
9
Die Wut und
die Stille
D u missverstehst mich doch absichtlich, oder?«
Milt schüttelte den Kopf. »Nein, tue ich nicht. Ich weiß genau, was du damit sagen willst.«
Finn blieb stehen. Um sie herum heulte und toste der Wind, aber sie spürten nichts davon. Sogar an den Lärm hatten sie sich längst gewöhnt.
»Ich habe gesagt, dass du dir keine Sorgen machen musst. Es stört mich nicht, dass Laura mit dir zusammengekommen ist. Das ist alles.«
»Was bedeutet, dass du glaubst, du könntest sie mir wegnehmen, wenn es dich stören würde.«
Milt ging an ihm vorbei, und Finn musste ihm folgen, um innerhalb der Blase zu bleiben. Sie hatten anfangs, als der Wind noch schwach war, damit experimentiert und festgestellt, dass sie sich nicht mehr als drei Meter voneinander entfernen durften. Das schien der Durchmesser der Blase zu sein.
»Das habe ich nicht gemeint.«
»Es klang aber so.«
Schweigend gingen sie weiter. Sie waren der Mitte des Tals so nah, dass sie bereits in die Windhose eingetaucht waren. Steinstaub wirbelte um sie herum und verwandelte die Umgebung in einen grauen Nebel. Es ging steil bergab. Immer wieder rutschten sie auf dem glatten Fels aus.
Finn wechselte das Thema. Über Laura zu sprechen erinnerte an den Lauf durch ein Minenfeld. Einige Male hatte er sich schon in die Luft gesprengt.
»Was wirst du tun, wenn wir am Ziel sind?«, fragte er.
»Versuchen, den Wind zu rufen und mit ihm zu sprechen.« Milt fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. »Ich weiß nicht, ob das durch diese Blase geht. Wahrscheinlich muss ich sie verlassen.«
»Du willst da raus?« Finn zeigte auf das wirbelnde Chaos.
»Wenn es nicht anders geht.«
Milt rutschte aus, fing sich aber, bevor er stürzen konnte. Er wirkte nervös und unsicher. Zu unsicher, dachte Finn.
»Hast du das schon mal gemacht?«, fragte er.
»Meinst du, bist du schon mal ins Zentrum eines wütenden Sturms vorgedrungen, um ihn davon zu überzeugen, ein Dorf voller merkwürdiger Leute in Ruhe zu lassen? Nein, das habe ich noch nie gemacht.«
Sein Täuschungsmanöver war leicht zu durchschauen. Finn machte ihn nicht darauf aufmerksam, sondern sah ihn so lange an, bis Milt seufzte.
»Eigentlich«, sagte er, »funktioniert unsere Magie auf andere Weise. Wir reden nicht mit den Naturgeistern, sondern bitten sie um Hilfe bei unseren Zaubern.«
»Und das klappt?«
»Nicht immer.«
Finn kratzte sich am Kopf und spürte Sand unter den Fingernägeln. »Also hast du eigentlich keine Ahnung, was du gleich tun wirst,«
»So kann man das nicht ...« Milt unterbrach sich. Es sah aus, als würde er sich innerlich einen Ruck geben. »Doch, man kann es so sagen. Du hast recht, ich habe keine Ahnung.«
Nicht lachen, dachte Finn, aber es ließ sich nicht unterdrücken.
Zu seiner Erleichterung lachte Milt nach einem Moment ebenfalls. Es schien ihn zu befreien. Seine Schultern strafften
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