Schattenlord 6 - Der gläserne Turm
auftauchtet. Niemand aus dem Dorf wird an meine Stelle treten, sondern eine Fremde. Frauen sind nicht viel wert bei uns, doch fremde Frauen sind gar nichts wert. Niemand wird dich vermissen.«
»Meine Freunde werden mich vermissen. Sie lassen mich nicht im Stich.«
»Deine Freunde sind längst tot.« Die Gewissheit, mit der Ella das sagte, versetzte Laura einen Stich. »Harlenn wollte nie, dass sie mit dem Wind reden. Er hat ihnen den Schild genommen, als sie ihn am dringendsten brauchten.«
Sie machte eine Pause. »Wir hätten Freundinnen werden können, du und ich. Du bist nett, das kann ich spüren.«
Der Sprung verwirrte Laura, aber sie verdrängte die Sorge um Milt und Finn und versuchte, Ella zu folgen. »Wir können immer noch Freundinnen werden.« Sie wünschte sich, sie hätte die andere Frau sehen und nicht nur hören können. »Du sagst, dass du dein Herz fühlst. Dein Körper gehört wieder dir. Du kannst verhindern, dass Harlenn mir das Gleiche antut wie dir.«
»Das weiß ich nicht.« Eine tiefe Traurigkeit lag in Ellas nächsten Worten. »Ich weiß nur eins: Dieses Dorf hat große Schuld auf sich geladen, mehr, als es jemals tilgen kann. Und es wird damit fortfahren, bis du tot bist und all die, die dir noch folgen werden, bis die ganze Welt nur noch aus Stein und Wind und Tod besteht.«
Laura verstand nicht, wovon Ella sprach, aber sie ließ sie reden. »Doch ich werde es beenden. Das wird die einzige gute Tat meines Lebens sein. Und es tut mir so leid, dass du dabei sterben musst.«
»Was meinst du damit? Ella, was hast du vor?«
Stille antwortete ihr.
»Ella?«
Plötzlich polterte es draußen vor ihrem Gefängnis. Sie hörte laute Rufe, dann einen Knall und dumpfe Schläge.
»Laura, wach auf!« Nidis Stimme. »Wir müssen weg von hier.«
Sie schrie ihm ihre Antwort entgegen: »Ich bin wach!«, hörte jedoch nichts.
»Wach auf, Laura.«
Wieder Geräusche, dann auf einmal ihre eigene Stimme. »Hilf mir. Halte die Frau auf!«
Poltern. Ein Schrei.
Was geht denn hier vor?, dachte Laura verzweifelt.
Nidi machte erschrocken einen Satz zurück, als die Frau neben Laura die Augen öffnete und sich erhob. Sie starrte ihre dürren, knochigen Hände an, dann sah sie sich in der Hütte um, bis ihr Blick auf Harlenns Bett fiel. Mit schlurfenden Schritten ging sie darauf zu. Ihr Fuß stieß gegen die halb volle Wasserschüssel neben dem Bett.
Nidi wollte sie fragen, was los sei, doch bevor er das erste Wort ausgesprochen hatte, öffnete auch Laura die Augen.
»Hilf mir! Halte die Frau auf!«, stieß sie hervor.
Er zögerte nicht. Mit einem Satz sprang er Harlenn in den Rücken, warf den Körper der Frau, in der er steckte, zu Boden. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Laura aufsprang und nach einem schweren Tonkrug griff. »Wir müssen sie von mir fernhalten.«
Mir? Nidi erstarrte. Er sprang von dem Rücken der Frau, die er für Harlenn gehalten hatte, und sah Laura an. »Wie heißt du?«, fragte er.
Laura runzelte die Stirn. »Was ist das denn für eine Frage? Du kennst mich, wir sind uns doch erst vor Kurzem begegnet.«
Während sie das sagte, ging sie auf die am Boden liegende Frau zu.
»Harlenn?«, fragte Nidi.
»Natürlich. Und jetzt hilf mir. Jemand versucht, mich zu töten.« Harlenn holte mit dem Krug aus, als wolle er die Frau erschlagen.
Nidi sprang Laura an, die nicht mehr Laura war. Der Krug wurde ihr aus der Hand geprellt und zerschellte am Boden. Die zweite Frau kam hoch. Sie hielt etwas in der Hand, was der Schrazel nicht erkennen konnte, und ließ sich schwer auf das Bett fallen.
Das Poltern unterhalb der Falltür wurde lauter.
»Was soll das denn?«, schrie Laura. Nidi brachte es nicht über sich, sie Harlenn zu nennen. Er duckte sich, als sie herumfuhr, aber er war zu langsam. Ihr Tritt traf seine Schulter und schleuderte ihn in die erste Stuhlreihe hinein. Er konnte seinen Aufprall nicht abfangen und krachte gegen eine Holzlehne. Einen Moment lang wurde ihm schwarz vor Augen.
Benommen hörte er, wie die Falltür mit einem Knall auf den Boden schlug. Er schüttelte sich und stellte fest, dass er unter einen der Stühle gerutscht war. Stiefel trampelten an ihm vorbei.
Bron schrie: »Helft Harlenn!«
Rumaz riss Laura zurück und schleuderte sie gegen die Wand. Sie sackte stöhnend zusammen. Dunin blieb über ihr stehen, den Knüppel in der Hand, und sah sich um.
Er sucht mich, dachte Nidi. Reglos verharrte er unter dem Stuhl.
Bron fasste die Frau an den Schultern und
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