Schattenlord 6 - Der gläserne Turm
glatten Fels rutschte. Mit den Sohlen stemmte er sich gegen den Tentakel in seinem Rücken, aber es war sinnlos. Der Wind war stärker als er.
Milt drehte den Kopf. Angst flackerte in seinem Blick. Dann stieß der Tentakel ihn ein letztes Mal an, und er verschwand in der Wolkensäule.
»Milt!« Finn trat gegen den Tentakel, der ihn festhielt, doch sein Tritt ging ins Leere. So schnell, dass sein Blick ihnen nicht zu folgen vermochte, waren die Tentakel in die graue Wand zurückgekehrt.
Finn stand allein im Zentrum des Sturms.
10
Ella
E s geschah so schnell, dass Laura nicht einmal schreien konnte.
»Schließe die Augen«, sagte die Frau, die sie weder als Harlenn noch als Werkzeug bezeichnen würde, egal, was die anderen taten. Laura schloss die Augen - und der Albtraum begann. Es fühlte sich an, als habe jemand die Nerven durchtrennt, die von ihrem Gehirn zum Rest des Körpers führten. Sie hörte, wie Nidi versprach, auf sie zu achten, wie Milt sich von ihr verabschiedete, und schrie um Hilfe, nicht nur einmal, hundertmal. Kein Geräusch verließ ihre Kehle, ihr Körper schien nicht mehr zu existieren. Laura wusste nicht einmal, ob sie - ihre Seele, ihr Verstand - überhaupt noch Teil ihres Körpers war oder ob man sie hinauskatapultiert hatte, wohin auch immer. Die Schwärze, die sie umgab, erschien undurchdringlich.
Sie hörte Geräusche, die aus der Hütte kommen mussten, aber keines, das aus ihr selbst kam, weder ihren Atem noch ihren Herzschlag. Die Stille war so desorientierend, dass Laura nur mühsam ihre Panik unterdrücken konnte.
»Er hat meinen Körper übernommen«, dachte sie, doch ihr Gehirn ließ sie die Worte hören, als würden sie ausgesprochen. Das tat gut.
»Harlenn, hörst du mich?«, rief sie. »Du wirst mir nicht das Gleiche antun wie ihr. Ich werde dich in deinen alten Körper zurückjagen, hörst du?«
Die Worte galten weniger ihm als ihr. Laura musste sich Mut machen, durfte die Hoffnung nicht verlieren, sonst würde sie enden wie die Frau.
»Er kann dich nicht hören.«
Die Stimme, so dicht neben ihr, ließ sie zusammenschrecken. »Wer bist du?«, fragte sie, obwohl sie es bereits ahnte.
»Du wolltest meinen Namen wissen. Das war nett von dir.«
Laura war sich nicht sicher, ob das eine Antwort auf ihre Frage sein sollte oder ob die Frau, als deren Nachfolgerin sie wohl vorgesehen war, schon zu lange in dieser Isolation lebte. »Wie ist denn dein Name?«
»Ich weiß es nicht mehr.« Es lag weder Verzweiflung noch Verbitterung in ihrer Stimme, nur ein leises Bedauern.
»Gibt es einen Namen, den du gern hättest?«, fragte Laura. In der Anderswelt, das hatte sie gelernt, waren Namen noch wichtiger als in der Welt der Menschen. Den eigenen zu vergessen musste schrecklich für die Frau sein.
»Ella.«
»Das ist ein schöner Name.« Laura fiel auf, dass sie zu der vielleicht mehr als tausend Jahre alten Frau sprach, als wäre sie ein Kind. Sie tat es instinktiv, ohne darüber nachzudenken.
»Wie alt bist du?«, fragte sie.
»Elf. Ich bin schon seit sehr langer Zeit elf. Aber das wird bald vorbei sein.«
Nun hörte Laura doch ihre Verbitterung.
»Warum sagst du das?«
»Weil du jetzt hier bist.« Ella seufzte. »Mich hat Harlenn verbraucht, ich spüre, wie ich schwächer werde, wie mein Herz langsamer schlägt, er braucht einen neuen Körper.«
Laura versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie der Gedanke, eine Ausgestoßene in ihrem eigenen Körper zu sein, entsetzte. »Erkläre mir, was er tut und warum.«
»Er allein hat die Macht, die Kuppel aufrechtzuerhalten. Ich weiß nicht, weshalb, aber es ist immer schon so gewesen. Er hat sein Leben geopfert, damit der Wind uns nicht töten kann, doch das allein reicht nicht. Er braucht Kraft.«
»Und diese Kraft zieht er aus fremden Körpern.«
»Ich glaube nicht, dass er weiß, was geschieht. Das ist alles Teil seiner Magie. Für uns ist es schrecklich ...« Ellas Stimme begann zu zittern, ob es an ihren Gefühlen oder an ihrer Erschöpfung lag, konnte Laura nicht sagen.
»Meine Eltern haben mir gratuliert, als die Dorfältesten mich erwählten, aber ich sah die Tränen in ihren Augen. Ich glaube, du kennst meinen Vater bereits. Sein Name ist Bron.«
»Ja.« Lauras Gedanken kreisten nicht um die Vergangenheit, von der Ella erzählte, sondern um die Zukunft, die ihnen beiden bevorstand. Etwas, das sie gesagt hatte, ging ihr nicht aus dem Kopf.
»Er muss sehr erleichtert gewesen sein, als ihr
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