Schattenlord 6 - Der gläserne Turm
sich, die Unsicherheit verschwand aus seinem Blick. »Aber irgendwie kriegen wir das schon hin.«
»Irgendwie«, sagte Finn. Er wollte weitergehen, blieb jedoch stehen, als Milt seinen Arm berührte. »Was ist?«
»Siehst du das da vorn?«
Finn kniff die Augen zusammen. Er sah wirbelnde graue Schleier und einen Nebel aus Staub, an dem sein Blick keinen Halt fand und abglitt. »Nein, ich ...«, begann er, doch dann blitzte es weiß vor ihm auf. Je länger er sich auf die weißen Flecken konzentrierte, desto klarer wurden sie, setzten sich schließlich zusammen und wurden zu ...
»Eine Säule?«, fragte Finn.
»Die sehe ich auch. Komm, ich glaube, wir sind am Ziel.«
Sie gingen schneller, rutschten und schlitterten über den Stein. Finn achtete darauf, in Milts Nähe zu bleiben. Wenn dessen Befürchtung stimmte, würden sie sich noch früh genug trennen müssen.
Im gleichen Moment brach der Sturm über sie herein. Wie eine Faust traf er Finn in den Rücken und warf ihn zu Boden. Der plötzliche Lärm presste seinen Kopf zusammen. Steinstaub drang ihm in Augen, Mund und Nase. Er hustete, krümmte sich zusammen und riss seine Jacke schützend hoch.
»Die Blase ...!«, schrie Milt. Der Rest seiner Worte ging im Sturm unter.
... ist geplatzt! Finn dachte den Satz für ihn zu Ende. Er spürte, wie Milt seinen Oberarm ergriff, und versuchte, ihm auf die Beine zu helfen, nur um selbst zu stürzen. Finn legte ihm den Arm um die Schultern, zog ihn zu sich heran.
»Zur Säule!«, schrie er. Der Staub auf seiner Zunge schmeckte bitter wie Asche. »Auge des Sturms!«
Er wusste nicht, ob das stimmte, aber er hoffte es.
Weder er noch Milt standen auf, der Sturm hätte ihnen nur die Beine unter dem Körper weggerissen. Kriechend und mit gesenktem Kopf bewegten sie sich vorwärts, sahen nur auf, um sich zu vergewissern, dass die Säule noch vor ihnen war. Mal übernahm Finn die Führung, mal Milt. Sie sprachen nicht, hielten sich nur den Stoff ihrer Jacken vor Mund und Nase, um wenigstens atmen zu können.
Der Sturm wütete, doch er war nicht zielgerichtet, das erkannte Finn, als er sich Meter um Meter vorwärtskämpfte. Wenn er wüsste, dass wir hier sind, dachte er, wären wir schon längst tot.
Aber sie lebten noch, und die Säule kam immer näher.
Finn hustete, seine Augen tränten und stachen, der Lärm raubte ihm fast den Verstand. All seine Kraft musste er aufwenden, um seinen Körper nach vorne zu hieven. Er hörte Milt neben sich stöhnen und zog ihn weiter. Nach ein paar Metern tat Milt dasselbe für ihn.
Es wurde still.
So plötzlich, dass Finn fast schon glaubte, seine Trommelfelle seien geplatzt, endete der Lärm. Staub rieselte aus seinen Haaren und seiner Kleidung zu Boden, neben ihm hob Milt den Kopf.
»Das Auge des Sturms«, sagte er. Es klang ehrfürchtig. »Wir haben es geschafft.«
Finn wischte sich die Tränen aus den Augen. Er musste einige Male blinzeln, bis sein Blick sich klärte und die Säule vor ihm Gestalt annahm.
»Das ist kein Stein«, sagte er.
Die Säule war so breit wie zwei Männer und so hoch, dass sie sich im Himmel verlor. Ohne die Windhose, die um sie herum tobte und alles grau färbte, hätte man sie schon vom Rand des Tals aus gesehen.
Milt schüttelte sich Steinstaub aus den Haaren und ging langsam um die Säule herum. »Du hast recht. Das sieht aus, als hätte jemand weiße Wolken in eine Glasröhre geschoben.«
Er kehrte an seinen Ausgangspunkt zurück. »Ich glaube, die Säule ist die Seele des Windes.«
»Und jetzt?« Finn ließ den tosenden Sturm nicht aus den Augen. Es erschien ihm seltsam, wie friedlich und still es in seinem Zentrum war. Das musste eine übernatürliche Ursache haben, anders konnte er sich das nicht erklären.
Milt hob die Schultern. »Irgendwie werde ich schon mit ihm reden können.« Er wischte sich die Hände an der Hose ab und machte einen Schritt auf die Säule zu.
»Willst du sie etwa anfassen?«, fragte Finn.
»Hast du eine bessere Idee?«
»Nein, aber ...«
Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden. Plötzlich heulte der Sturm auf. Ein Tentakel schoss auf Finn zu, schob ihn zur Seite, weg von der Säule, während der andere Milt nach vorn drückte.
»Pass auf!«, schrie Finn. Er ahnte, was geschehen würde, und warf sich gegen den Tentakel aus Wind und Steinstaub, doch der trieb ihn beinahe spielerisch zurück, drückte ihn gegen die Wand, die der Sturm rund um die Säule bildete. Hilflos musste Finn mit ansehen, wie Milt über den
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