Schattenlord 6 - Der gläserne Turm
längst weg!«, rief er, aber Milt bezweifelte, dass er das wirklich glaubte.
Trotzdem liefen sie weiter, keuchend und mit schmerzenden Beinen. Zentimeter um Zentimeter schob sich das Dorf hinter den Felsen empor. Der Sturm sammelte sich darüber, wirbelnd und tosend, ein Sinnbild unendlicher Wut. Einen Moment hielt er inne, so als wollte er sicherstellen, dass seine Peiniger wussten, wem sie den Tod verdankten, dann fuhr er auf sie nieder.
Die Hütten flogen auseinander. Mit Fäusten aus rasender Luft zertrümmerte der Sturm alles, was er unter sich fand. Bretter, Steine und Elfen wurden emporgerissen, manche so hoch, dass Milt glaubte, sie müssten die Sonne berühren.
»Laura!«
Er sank auf die Knie. »Laura ...«
Finn blieb neben ihm stehen. Milt hörte seinen keuchenden Atem. Auch er musste erkannt haben, dass es keinen Sinn mehr hatte, weiterzugehen. Das Dorf war vernichtet. Was auch immer in ihm gelebt hatte, war nun tot. Die Leere, die er plötzlich in sich spürte, drohte ihn zu zerreißen.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter. »Du kannst aufhören zu trauern.«
»Was?« Milt hob den Kopf. Sein Herz setzte einen Schlag aus, als sich zwei Gestalten aus dem Chaos schälten, eine groß, eine klein. Sie rannten nicht, liefen nicht, sondern gingen so gemütlich, als wären sie auf einem Spaziergang. Die kleine Gestalt hüpfte sogar ab und zu.
Die größere wankte. Nur wenig später schloss Milt Laura in die Arme.
»Wie seid ihr rausgekommen?«, fragte Finn, nachdem auch er sie und Nidi begrüßt hatte.
Laura hob die Schultern. »Eine Schutzkuppel, denke ich. Als wir die Hütte verließen, brach der Sturm bereits los, aber wir merkten nichts davon.«
»Dann hat der Wind euch wohl verschont«, sagte Milt.
»Oder Ella hat uns gerettet.«
Finn runzelte die Stirn. »Wer ist Ella?«
Laura erzählte. Milt warf einen Blick zurück, während sie dem Weg durch das Tal folgten. Der Sturm hatte das Dorf vollständig zerstört. Nicht einmal die Fundamente der Hütten waren noch zu sehen. Nun riss er die Erde auf, warf Fässer und Kisten empor, zertrümmerte Mauern und Balken.
Du bist frei, dachte Milt. Mach dich nicht zum Sklaven deiner Rache.
Nach einer Weile wurde es still hinter ihnen. Glitzernde Partikel rieselten sanft und leise wie Schnee zu Boden. Es regnete Goldstaub, bis sie das Tal verließen.
12
Die Schlafende
L iegst du immer noch im Bett? Sandra, es ist schon fast Mittag.«
Luca hörte die Stimme seines Vaters, bevor er die Hütte betrat. Sandra hatte das einzige Fenster mit ihrer Jacke verhängt, sodass es im Inneren stets dunkel war. Deshalb brauchte Luca einen Moment, bevor er sah, dass sein Vater auf einem Hocker saß und seine Schwester mit hochgezogener Decke und von ihm abgewandtem Kopf in ihrem Bett lag.
»Lass mich in Ruhe«, sagte sie. Ihre Stimme klang belegt, als sei sie noch nicht richtig wach.
»Ich habe dich schon viel zu lange in Ruhe gelassen. Steh auf, geh duschen und komm mit raus aufs Feld. Wir brauchen noch Helfer bei der Aussaat.«
»Ich bin müde.« Sandra zog die Decke höher.
»Kein Mensch kann so viel schlafen. Du liegst schon seit gestern Abend im Bett.« Felix erhob sich und warf Luca einen kurzen, Hilfe suchenden Blick zu. Sag du doch auch mal was, schien er zu bitten.
»Es ist warm draußen.« Luca war nicht sicher, ob das die richtigen Worte waren. »Und Peddyrs Mutter hat wieder Ramrols gemacht. Er lässt sie dich bestimmt probieren.«
»Ich hab keinen Hunger.« Sandra klang nicht einmal genervt, so wie sonst, wenn Luca ihr etwas erzählte, was sie nicht interessierte.
»Wenn du gearbeitet hast, wirst du schon hungrig werden.« Sein Vater trat an ihr Bett und riss mit einem Ruck die Decke herunter. Luca erwartete, dass Sandra hochfahren und ihn anschreien würde, aber sie zog nur die Knie an.
»Ich will nichts von diesen Elfen. Sie sind böse.«
»Sind sie nicht.« Luca ging zur anderen Seite des Bettes. »Sie haben uns aufgenommen, und sie beschützen uns, obwohl sie es nicht müssten.«
Sandra starrte an ihm vorbei ins Nichts. »Nur solange es ihren eigenen Zwecken dienlich ist. Du wirst schon sehen.«
»Solange es ihren eigenen Zwecken dienlich ist?« Felix schüttelte den Kopf. »Das sind doch nicht deine Worte. Rimmzahn hat dir das eingeredet, oder?«
Sie schwieg.
Felix holte tief Luft. »Der Mann versprüht Worte wie Gift. Ich will nicht, dass du mit ihm redest. Und darüber gibt es keine Diskussionen.«
Luca kannte den Tonfall
Weitere Kostenlose Bücher