Schattenlord 6 - Der gläserne Turm
setzte sie auf, erstaunlich sanft, wie Nidi fand.
»Hat sie dir etwas getan?«, hörte er ihn fragen. Sie antwortete so leise, dass er nichts verstand, doch Brons Gesichtszüge verhärteten sich. Er stand auf und sah den Männerkörper, den wahren Harlenn auf dem Bett an. Dessen Haltung hatte sich nicht verändert, doch aus seinem Mund ragte ein Zipfel des Tuchs, mit dem die Frau seine Lippen beträufelt hatte. Sie hatte ihn damit erstickt.
»Er ist tot«, sagte Bron. Seine Stimme zitterte. »Die Kuppel existiert nicht mehr.«
Es polterte, als Dunin seinen Knüppel fallen ließ. Rumaz fuhr sich mit einer Hand durch die Haare, riss ein ganzes Büschel dabei aus, ohne es zu bemerken.
»Weg hier«, sagte er, sah dabei jedoch die anderen an, als hoffe er auf eine andere Lösung.
Bron warf einen letzten Blick auf die Frau neben dem Bett. Sie atmete nur noch flach, ihre Augen waren halb geschlossen. Nidi glaubte, dass sie im Sterben lag. »Nehmt so viel Gold mit, wie ihr tragen könnt. Ich warne die anderen.«
Dunin sprang vom Podest und lief auf die Falltür zu, sichtlich froh, dass jemand das Kommando übernommen hatte. Rumaz deutete mit dem Kinn auf Laura, die reglos am Boden lag. »Was ist mit ihr?«
Bron hob die Schultern. »Nichts. Sie wird sterben, bevor sie wach ist. Und jetzt los, beeil dich!«
Rumaz lief in den Keller, Bron nach draußen. Nidi kroch unter seinem Stuhl hervor, sprang auf das Podest und begann, Laura zu schütteln und an ihren Haaren zu ziehen.
»Wach auf! Wach endlich auf!«
Sie stöhnte, wollte benommen seine Hand wegschlagen, aber er ließ nicht locker. Dann, endlich, öffnete sie die Augen.
»Wie ist dein Name?«, fuhr Nidi sie an, noch bevor ihr Blick sich klärte.
»Laura.«
Erleichtert ließ er sie los. »Komm, wir haben keine Zeit. Die Frau ...«
»Ella«, unterbrach ihn Laura. Sie kam unsicher hoch und ging zu der Sterbenden, die neben dem Bett lag. Harlenn beachtete sie nicht. »Ihr Name ist Ella.«
Nidi sah nervös zur Tür, als Laura auf die Knie ging und Ellas Schleier zurückschob. Das Gesicht darunter war jung, doch so verlebt und eingefallen wie das einer Greisin. Sie hatte die Augen geschlossen. Nidi war sich nicht sicher, ob sie überhaupt noch lebte.
»Ich hoffe, dass du Freunde findest, wo auch immer du jetzt hingehst«, sagte Laura leise. »Leb wohl.«
Dann stand sie auf und stieg vom Podest. Nidi lief bereits auf die Tür zu.
Draußen begann der Wind zu heulen.
11
Himmelskind
M ilt schwebte.
Er spürte noch immer den Stoß, der ihn in die Seele des Windes geschleudert hatte, doch von der Säule selbst war nichts mehr zu sehen. Stattdessen hing Milt über einer grünen, offenen Landschaft. Wind zerzauste sein Haar, spielerisch, auffordernd, aber er konnte nicht darauf eingehen, kämpfte stattdessen gegen seine Instinkte, die versuchten, ihm einzureden, dass er sterben würde. Der Boden lag hundert Meter oder mehr unter ihm. Er sah winzige Menschen auf einem Feld, Kühe, Schafe, die Dächer kleiner Hütten und eine Straße, die sich an einem Dorf vorbeiwand.
Ist das der Weg, den wir genommen haben?, fragte er sich. Der Gedanke lenkte ihn von seiner Angst ab.
Der Wind schien zu ahnen, was in ihm vorging, denn sanft und langsam ließ er Milt tiefer sinken, bis er sich gerade mal ein Dutzend Meter über der Landschaft befand. Die Angst schwand.
Wieder forderte der Wind ihn auf, und dieses Mal ließ Milt sich auf das Spiel ein. Gemeinsam wehten sie einem kleinen Mädchen die Zöpfe ins Gesicht und rissen ein Hemd von dem gespannten Seil, an dem es trocknen sollte, wirbelten es empor, während die Frau, die es aufgehängt hatte, hinter ihnen herlief.
Das ist wirklich der Weg ins Tal, dachte Milt. Die Dörfer waren intakt, es gab keine Spuren von Plünderungen. Er zeigt mir die Vergangenheit.
Der Wind jagte mit ihm über das Land. Er trieb Wolken wie Schafe vor sich her, spielte mit dem Regen, dem Schnee, mit dem Staub auf dem Boden und den Blättern an den Bäumen.
Manchmal wurde er wütend, dann riss er Äste ab, ließ Hütten Zusammenstürzen und brachte Angst und Schrecken über die Dorfbewohner. Weshalb er das tat, verstand Milt nicht. Er konnte den Wind nur beobachten und versuchen, Schlussfolgerungen aus dessen Verhalten zu ziehen. Mit ihm reden konnte er nicht.
Die Wutanfälle traten nur selten auf und dauerten nie länger als ein paar Stunden. Meist spielte der Wind oder jagte über den Himmel, so frei wie nichts anderes in dieser Welt.
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