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Schattenlord 6 - Der gläserne Turm

Schattenlord 6 - Der gläserne Turm

Titel: Schattenlord 6 - Der gläserne Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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gegenüberstanden. Denn abgesehen von Felix war keiner bereit, das eigene Leben zu riskieren, sonst hätten sie längst vorgeschlagen, den Krater zu verlassen.
    Das taten sie aber nicht. Selbst Rimmzahn, der das Feuer der Wut mit jeder Bemerkung weiter schürte, schreckte davor zurück. Auch den Knüppel, den Micah ihm geben wollte, nahm er nicht an. Er war ein Demagoge, der andere dazu brachte, für seine Sache zu kämpfen, kein General, der an der Spitze seiner Truppen in die Schlacht zog.
    Er ist ein Feigling, dachte Jack, aber das macht ihn nur noch gefährlicher.
    Auf der anderen Seite des Platzes, neben Sandras Bett, sprachen Cedric und Felix miteinander. Der Sucher tat, was er konnte, um die Menschen zu beruhigen, aber obwohl Jack nicht verstand, was gesprochen wurde, erkannte er, dass seine Mühe vergebens war. Felix war ein Vater, der versuchte, seine Kinder zu beschützen. Nichts, was Cedric sagte, würde daran etwas ändern.
    Es gab keine Lösung für ihr Problem. Solange die Kranken im Krater blieben, bestand die Gefahr, dass sie starben und den Seelenfänger anlockten. Dieses Risiko konnten die Iolair nicht eingehen. Jack hätte es an ihrer Stelle auch nicht getan. Doch wenn sie die Kranken an einen anderen Ort brachten und sich selbst überließen, verurteilten sie damit Unschuldige zum Tod - spätestens wenn der Seelenfänger dort auftauchte. Und das wiederum konnten die Menschen nicht zulassen.
    Frustriert fuhr sich Jack mit der Hand über die Augen. Was auch immer nach Ablauf der Stunde geschah, es würden Unschuldige darunter leiden. Und daran konnte niemand etwas ändern.
    Er bemerkte eine Bewegung am Rande seines Gesichtsfelds und hob den Kopf. Andreas stand zwischen zwei mannshohen Farnen hinter den Hütten. Ihre Blicke trafen sich, und einen Moment lang sah es so aus, als wolle der Kopilot sich in den Wald zurückziehen. Doch dann schien er sich einen Ruck zu geben, denn er ging auf Jack zu.
    »Hast du alles mitbekommen?«
    Andreas nickte. Er roch nach Schweiß. Sein Haar war ungewaschen, sein Gesicht voller Bartstoppeln. Er trug ein graues T-Shirt, das so schmutzig war, dass man die Aufschrift American Airlines kaum noch erkennen konnte.
    »Ist bei dir alles in Ordnung?«, fragte Jack. Er wollte nicht besorgt klingen, tat es aber.
    »Ja.« Dann, nach einem Moment, als müsse Andreas sich erst daran erinnern, welche Antwort auf die Frage angebracht war: »Und bei dir?«
    Seine Sprache wirkte monoton wie die eines Roboters. Menschen, die unter Schock standen, redeten manchmal auf diese Weise, aber Jack konnte sich nicht vorstellen, dass das auf Andreas zutraf.
    »Mir geht’s gut, mal abgesehen davon, dass wir kurz vor einer Meuterei stehen.« Unwillkürlich warf er einen Blick auf den Weg, der zu den Felshöhlen führte. Noch war dort niemand zu sehen. »Wenn du irgendeine Idee hast, wie man die abwenden könnte, wäre ich dir sehr verbunden.«
    »Nein.« Geistesabwesend begann Andreas auf dem Nagel seines Zeigefingers zu kauen. Den Blick richtete er dabei auf die schlafende Sandra, die von ihrem Bruder bewacht wurde. Sein linkes Augenlid zuckte. »Ich beneide sie«, sagte er, als er den Finger sinken ließ.
    Jack runzelte die Stirn. »Wen?«
    »Die Kranken. Würdest du dich nicht auch gern so fallen lassen, einfach einschlafen, nichts mehr hören, nichts mehr sehen, keine Sorgen mehr und keine Gedanken ...« Er ließ den Satz unvollendet. In seinem Blick lag eine Sehnsucht, stark wie Heimweh.
    »Aber am Ende dieses Schlafs wartet der Tod!«
    »Ein kleiner Preis.«
    Mit jedem Satz, den Andreas sprach, wuchs Jacks Besorgnis. Noch nie hatte er den Kopiloten so in sich gekehrt und abwesend erlebt. Er kannte Andreas als bodenständigen, zuverlässigen Mann, der vor Verantwortung nicht zurückschreckte und sich um die Menschen kümmerte, die ihm anvertraut wurden. Die schmutzige, verwahrloste Gestalt mit den abgekauten Fingernägeln und dem nervösen Augenlidzucken erschien ihm wie ein Fremder.
    »Sag mal«, begann Jack vorsichtig, »gibt es irgendwas, über das du gern mit mir reden würdest? Wir stehen alle unter großem Druck, und es ist ganz normal, wenn man damit nicht klarkommt. Also wenn du dir was von der Seele ...«
    Andreas sah ihn an. »Hat dein Vater dich geliebt?«
    »Was?«
    »Hat er dich geliebt?«
    Vor seinem geistigen Auge sah Jack seinen Vater: kurze graue Haare, durchgedrückter Rücken, harter Blick. Er war ein Mann, für den die Uniform geschaffen war, und bis zu seiner Krankheit

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