Schattennacht
sich nicht wundern, wenn bald ein Wagen von der Klapsmühle vor seiner Tür hält.
Trotz dieser Einwände beschloss ich, Schwester Angela einzuweihen, weil sie wirklich zuhören konnte und ein gutes Ohr für Unaufrichtigkeit hatte. Zwei gute Ohren. Vielleicht war der Schleier rund um ihr Gesicht in Wirklichkeit ein Hightechinstrument, das dazu diente, alle Geräusche zu bündeln und seiner Besitzerin mehr Nuancen zu vermitteln, als gewöhnliche Leute wahrnahmen.
Damit will ich freilich nicht sagen, gewisse Nonnen hätten das technische Talent von Q, dem genialen Erfinder, der James Bond mit immer wieder neuen, abgefahrenen Spielereien ausstattet. Schon möglich, dass dem so ist, aber beweisen kann ich das nicht.
Im Vertrauen auf Schwester Angelas guten Willen und auf die Bockmist filternde Funktion ihres Schleiers erzählte ich ihr also von den Bodachs.
Sie lauschte aufmerksam und mit unbewegtem Gesicht, dem man nicht ansah, ob sie mich nun für geistesgestört hielt oder nicht.
Mit der Kraft ihrer Persönlichkeit konnte Schwester Angela ihr Gegenüber zwingen, ihr in die Augen zu schauen. Vielleicht waren manche besonders willensstarke Menschen in der Lage, dennoch den Blick abzuwenden, aber zu denen gehörte ich nicht. Nachdem ich ihr alles über die Bodachs erzählt hatte, fühlte ich mich wie in Porzellanblau eingelegt.
Als ich fertig war, betrachtete sie mich schweigend und mit undurchdringlicher Miene. Ich dachte schon, sie hätte beschlossen, für meine geistige Gesundung zu beten, da akzeptierte sie
die Wahrheit meiner Worte mit der simplen Frage: »Was müssen wir nun unternehmen?«
»Keine Ahnung.«
»Das ist eine äußerst unbefriedigende Antwort.«
»Äußerst«, pflichtete ich ihr bei. »Es ist eben leider so, dass die Bodachs erst vor einer halben Stunde aufgetaucht sind. Ich habe sie noch nicht lange genug beobachtet, um raten zu können, was sie hierhergelockt hat.«
Umspielt von den geräumigen Ärmeln ihrer Kutte, ballten ihre Hände sich zu rosafarbenen Fäusten mit weißen Knöcheln. »Den Kindern wird etwas zustoßen, ja?«, fragte sie.
»Nicht unbedingt allen. Vielleicht einigen. Und vielleicht nicht nur den Kindern.«
»Wie viel Zeit bleibt uns bis … zu dem, was geschehen wird?«
»Normalerweise tauchen die Bodachs ein oder zwei Tage vor dem Geschehnis auf. Um den Anblick derer zu genießen, die bald …« Ich scheute davor zurück, mich genauer auszudrücken.
Schwester Angela vollendete meinen Satz: »… sterben müssen.«
»Wenn ein Mörder beteiligt ist, das heißt, wenn das Unheil durch Menschenhand geschieht statt durch so etwas wie einen explodierenden Heizkessel, sind die Bodachs manchmal genauso fasziniert vom zukünftigen Täter wie von den möglichen Opfern.«
»Hier gibt es keine Mörder«, sagte Schwester Angela.
»Was wissen wir eigentlich wirklich über Rodion Romanovich? «
»Du meinst den russischen Gast in der Abtei?«
»Der blickt immer so finster drein«, sagte ich.
»Das tue ich manchmal auch.«
»Ja, Ma’am, aber dann handelt es sich um einen besorgt finsteren Blick, und außerdem sind Sie eine Nonne.«
»Und er ist ein spiritueller Pilger.«
»Dass Sie eine Nonne sind, wissen wir mit Sicherheit, aber was ihn betrifft, haben wir nur sein Wort.«
»Hast du denn gesehen, dass ihm irgendwelche Bodachs gefolgt sind?«
»Noch nicht.«
Schwester Angela runzelte so stark die Stirn, dass sie tatsächlich fast finster dreinblickte. »Wenn er uns hier im Internat besucht, ist er immer sehr freundlich.«
»Ich beschuldige ihn ja gar nicht. Allerdings bin ich neugierig, wer er ist.«
»Nach den Laudes spreche ich erst einmal mit Abt Bernard darüber, dass wir ganz allgemein die Augen offen halten müssen.«
Die Laudes waren das Morgengebet und das zweite von sieben Chorgebeten, die von den Mönchen täglich verrichtet wurden.
In dieser Abtei folgten die Laudes direkt auf die Matutin, bei der Psalmen gesungen und Schriften von Heiligen gelesen wurden. Das Ganze begann um Viertel vor sechs und endete spätestens um halb sieben.
Ich schaltete den Computer aus und stand auf. »Jetzt werde ich mich erst einmal noch ein wenig umschauen«, sagte ich.
Umgeben von ihrem wallenden weißen Habit, erhob sich auch Schwester Angela von ihrem Stuhl. »Wenn sich morgen eine Katastrophe ereignet, sollte ich jetzt noch ein wenig schlafen. Denk aber daran, dass du mich im Notfall jederzeit auf meinem Handy erreichen kannst.«
Lächelnd schüttelte ich den
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