Schattennacht
meinem Generalschlüssel öffnete ich den schweren Riegel. Lautlos schwang die bestimmt eine halbe Tonne schwere Tür auf kugelgelagerten Scharnieren auf, so perfekt ausbalanciert, dass ich sie mit einem Finger bewegen konnte.
Vor mir lag ein in blaues Licht getauchter Flur mit Steinwänden.
Selbsttätig schwang die Bronzetür hinter mir wieder zu und fiel ins Schloss, während ich zu einer zweiten Tür aus gebürstetem Edelstahl weiterging. In ihre matte Oberfläche waren polierte Lettern eingraviert, die wieder einen lateinischen Spruch zitierten: LUMEN DE LUMINE.
Licht vom Licht.
Ein breiter, stählerner Rahmen umgab die imposante Barriere. In seine rechte Seite war ein zwölf Zoll breiter Plasmabildschirm eingelassen.
Sobald ich ihn berührte, leuchtete der Bildschirm auf. Ich drückte die flache Hand dagegen.
Den Scanner, der meine Fingerabdrücke las, konnte ich zwar nicht sehen oder spüren, wusste jedoch, dass ich gerade identifiziert und zugelassen wurde. Mit einem pneumatischen Zischen glitt die Tür zur Seite.
Laut Bruder John war dieses Zischen für die Funktion der Tür keineswegs notwendig. Man hätte sie so bauen können, dass sie sich lautlos geöffnet hätte.
Das Zischen hatte er integriert, um sich daran zu erinnern, dass bei allem, woran der Mensch sich versuchte, eine Schlange lauerte, selbst wenn es mit noch so guten Absichten begonnen wurde.
Hinter der Stahltür erwartete mich eine kaum einen Quadratmeter große Kammer, die mich an ein völlig glattes wachsgelbes Porzellangefäß erinnerte. Ich trat ein und stand da wie ein einsames Samenkorn in einem hohlen, polierten Flaschenkürbis.
Als mich ein zweites, warnendes Zischen dazu brachte, mich in die Richtung umzudrehen, aus der ich gekommen war, war keine Spur der Tür mehr sichtbar.
Buttergelbes Licht strahlte aus den Wänden, und wie bei meinen früheren Besuchen in diesem Reich fühlte ich mich, als wäre ich in einen Traum gelangt. Gleichzeitig erlebte ich eine Loslösung von der Welt und eine gesteigerte Wahrnehmung der Realität.
Das Licht in den Wänden verblasste. Dunkelheit drang auf mich ein.
Obwohl es sich bei der Kammer um einen Aufzug handeln musste, der mich ein oder zwei Stockwerke tiefer brachte, nahm ich keine Bewegung wahr. Auch ein Geräusch machte die Maschinerie nicht.
In der Dunkelheit erschien ein Rechteck aus rotem Licht, während vor mir zischend ein neues Portal aufging.
Ich trat in einen Vorraum mit drei Türen aus gebürstetem
Stahl. Die rechts und links von mir trugen keine Aufschrift. Auch ein sichtbares Schloss hatten sie nicht, und man hatte mich noch nie aufgefordert, hindurchzutreten.
Auf der dritten Tür, die sich direkt vor mir befand, waren wieder polierte Lettern eingelassen: PER OMNIA SAECULA SAECULORUM.
Für alle Ewigkeit.
Im roten Licht glühte der gebürstete Stahl wie ein erlöschendes Feuer. Die polierten Lettern schillerten.
Ohne jedes Zischen glitt Für alle Ewigkeit beiseite, als sollte ich verfrüht eingeladen werden, in diesen Zustand zu gelangen.
Was mich tatsächlich erwartete, war ein runder Raum von etwa neun Metern Durchmesser. Bis auf vier gemütliche Ohrensessel, die man in der Mitte arrangiert hatte, war er leer. Neben jedem Sessel stand eine Stehlampe, doch nur zwei der Lampen brannten.
Da saß Bruder John in Kutte und Skapulier. Die Kapuze hatte er sich vom Kopf geschoben. Vor seiner Zeit als Mönch war er der berühmte John Heineman gewesen.
In einem großen Nachrichtenmagazin war er als »brillantester Physiker dieser Jahrhunderthälfte« beschrieben worden, der unter seiner »zunehmend gemarterten Seele« leide. Als Zugabe präsentierte der Artikel eine Analyse, die mit »HEINEMANS LE-BENSENTSCHEIDUNGEN« tituliert war. Verfasst hatte sie ein populärer Psychologe, bekannt durch eine Fernsehsendung, in der er die Probleme verschiedener geplagter Leute löste, zum Beispiel von kleptomanischen Müttern mit bulimischen Punker-Töchtern.
In der New York Times hatte es geheißen, John Heineman sei »ein Rätsel, umhüllt von einem Mysterium, verborgen in einem Geheimnis«. Zwei Tage später stellte die Redaktion in aller Kürze richtig, diese bemerkenswerte Beschreibung stamme nicht
von der Schauspielerin Cameron Diaz, die Heineman angeblich kennengelernt hatte, sondern von Winston Churchill, der sich 1939 so über die Sowjetunion geäußert hatte.
In einem Artikel mit dem Titel »Die dümmsten Prominenten des Jahres« nannte das Medienmagazin Entertainment Weekly
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