Schattennacht
Heineman einen »wiedergeborenen Trottel« und einen »hoffnungslosen Fachidioten, der Eminem nicht von Oprah Winfrey unterscheiden kann«.
Das Boulevardblatt National Enquirer hatte versprochen, Beweise dafür vorzulegen, dass Heineman und die TV-Moderatorin Katie Couric ein Liebespaar seien, wogegen die für ihre esoterischen Theorien bekannte Klatschzeitung Weekly World News berichtet hatte, er treffe sich insgeheim mit Prinzessin Diana, die angeblich nicht so tot sei, wie jedermann gedacht habe.
Verschiedene wissenschaftliche Zeitschriften, die ihre Vorurteile zu verteidigen hatten, nahmen Heineman fachlich unter Beschuss. Sie bezweifelten seine Forschungen, seine Theorien, sein Recht, diese Theorien zu veröffentlichen, ja sein Recht, solche Forschungen überhaupt durchzuführen und solche Theorien zu entwickeln, seine Motive und seine geistige Gesundheit. Außerdem kritisierten sie sein ungebührlich großes Vermögen.
Hätten die vielen Patente, die aus seinen Forschungen entstanden waren, ihn nicht zum vierfachen Milliardär gemacht, so hätten die meisten dieser Presseerzeugnisse keinerlei Interesse an ihm gehabt. Reichtum ist Macht, und Macht ist in etwa das Einzige, wofür sich die zeitgenössische Kultur begeistern kann.
Hätte Heineman nicht in aller Stille sein gesamtes Vermögen verschenkt, ohne eine Pressemitteilung herauszugeben und ohne irgendjemandem ein Interview zu gewähren, dann hätte man sich nicht dermaßen über ihn geärgert. Reporter sind auf die Macht, die sie ausüben, nämlich genauso stolz wie Popstars und Filmkritiker.
Hätte er sein Geld einer anerkannten Universität gestiftet, so hätte man ihn ebenfalls nicht gehasst. Schließlich geht es in den meisten Universitäten nicht mehr um das Wissen an und für sich, sondern ebenfalls, ganz im Sinne des Mainstreams, um den Kult der Macht.
Auch nach seinem Verschwinden aus dem Rampenlicht hatte Heineman sich nicht so verhalten wie erwünscht. Wäre er irgendwann mit einer minderjährigen Prostituierten erwischt oder in eine Klinik eingewiesen worden, weil er so viel Kokain geschnupft hatte, dass sein Nasenknorpel verfault war, so hätte die Presse ihm sicherlich alles vergeben und ihn zum tragischen Helden stilisiert. Als Basis für solche Mythen dienen ja inzwischen nicht mehr Dinge wie Aufopferungsbereitschaft, sondern Maßlosigkeit und Selbstzerstörung.
Stattdessen hatte John Heineman seine Jahre in mönchischer Abgeschiedenheit verbracht. Immer wieder hatte er monatelang sogar als Einsiedler gelebt, zuerst anderswo und dann hier in seiner unterirdischen Klause, ohne mit irgendeiner Menschenseele ein Wort zu wechseln. Dabei waren seine Meditationen von anderer Art als die der übrigen Mönche, wenngleich nicht notwendigerweise weniger ehrfürchtig.
Ich schritt durch den dunklen Bereich, der die exakt aufeinander ausgerichteten Möbel umgab. Der Boden war aus Stein. Unter den Sesseln lag ein weinroter Teppich.
Getönte Glühbirnen und umbrabraune Lampenschirme schufen ein Licht, das die Farbe von karamellisiertem Honig hatte.
Bruder John war ein groß gewachsener Mann mit langen Gliedern und breiten Schultern. Seine Hände, die momentan auf den Armlehnen seines Sessels ruhten, waren breit und hatten dicke, knochige Gelenke.
Zu einem solchen Körperbau hätte eigentlich ein längliches Gesicht gepasst, doch das von Bruder John war rund. Durch das
schräg von der Seite einfallende Licht richtete der scharfe, spitze Schatten seiner ausgeprägten Nase sich auf das linke Ohr. Ich musste an eine Sonnenuhr denken, deren Zeiger auf die Neun fiel.
In der Annahme, dass die zweite brennende Lampe dazu gedacht war, mich zu meinem Platz zu leiten, setzte ich mich in den Sessel gegenüber.
Bruder Johns Augen waren violett und von schweren Lidern beschattet, doch sein Blick war so fest wie der eines kampferprobten Scharfschützen.
Da er sich womöglich in meditativer Versenkung befand und nicht unterbrochen werden wollte, sagte ich nichts.
Die Mönche der Abtei waren gehalten, grundsätzlich zu jeder Zeit ihr Schweigen zu pflegen, außer während der für den Austausch vorgesehenen Perioden.
Das Stillsein während des Tages wurde als »kleines Schweigen« bezeichnet. Es begann nach dem Frühstück und dauerte bis zum geselligen Beisammensein nach dem Abendessen. In dieser Zeit sprachen die Brüder nur dann miteinander, wenn die Arbeit im Kloster es erforderte.
Die Stille nach dem Komplet, dem Nachtgebet, wurde das »große
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