Schattennächte: Thriller (German Edition)
davon abbeißen und ihn dann liegen lassen. Schweigend schob Leah die Aprikosenmarmelade zu ihr hinüber. Ihre Mutter schien es nicht einmal zu bemerken.
»Hast du heute Reitunterricht?«, fragte ihre Mutter, aber es klang nicht so, als würde sie sich wirklich dafür interessieren. Eher so, als wollte sie nur etwas sagen, um die Stille zu füllen, und vermutlich war sie in Gedanken ganz woanders und hörte gar nicht zu, was Leah antwortete.
Das verunsicherte Leah.
»Ja«, sagte sie. Natürlich hatte sie Reitunterricht. Außer montags, wenn der Reitstall geschlossen war, hatte sie jeden Tag Reitunterricht. Das wusste ihre Mutter doch.
»Wie geht’s Bacchus?«
»Gut.«
Bacchus war Leahs Pferd. Nach dem Tod ihres Vaters waren seine Polopferde an die Gracidas und Onkel Bump verkauft worden, aber Leah hatte ihr Pferd behalten dürfen.
Sie hatte furchtbare Angst gehabt, dass Bacchus auch verkauft werden würde. Es hätte ihr das Herz gebrochen, ihn zu verlieren. Nach dem Unfall ihres Vaters hatte sie das Gefühl, dass Bacchus ihr einziger Freund auf der Welt war. Auf jeden Fall war er der Einzige, der ihr ihre Gefühle zugestand, ohne über sie zu urteilen oder ihr zu erklären, wie sie zu fühlen oder zu denken hatte. Niemals richtete er über sie, wenn sie Leslie die Schuld daran gab, dass ihrer aller Leben zerstört worden war. Sie konnte immer zu Bacchus gehen, ihr Gesicht an seinem großen, breiten Hals vergraben und weinen, und er schnupperte an ihren Haaren und blies seinen warmen Atem in ihren Nacken, und schon fühlte sie sich getröstet.
»Wann soll ich dich heute Nachmittag abholen?«, fragte ihre Mutter.
Leah holte tief Luft. Jetzt war es so weit. Sie musste fragen. Sie fürchtete sich davor zu fragen. Sie wusste, dass ihre Mutter Nein sagen würde. Wahrscheinlich hatte es gar keinen Sinn zu fragen. Im Ernst, sie sollte gar nicht erst davon anfangen und sich die Abfuhr ersparen. Doch noch während sie darüber nachdachte, begannen sich ihre Lippen zu bewegen, und die Worte sprudelten aus ihr heraus.
»Wendys Mom fährt weg, und deshalb übernachtet Wendy bei Mrs. Leone, und sie hat gefragt, ob ich auch dort übernachten will, und Mrs. Leone hat nichts dagegen, also darf ich? Bitte!«
Ihre Mutter sah sie an, als würde ihr erst jetzt auffallen, dass Leah ihr gegenübersaß. »Was willst du?«
O Gott.
Sollte sie einfach sagen, es sei egal, nicht so wichtig?
Ihre Lippen formten jedoch schon wieder Worte.
»Wendys Mom fährt weg, und deshalb bleibt Wendy über Nacht bei Mrs. Leone, und sie hat gefragt, ob ich auch dort übernachten will«, wiederholte sie, und ihr Herz schlug umso schneller, je langsamer sie sprach. »Darf ich?«
Innerlich wappnete sie sich dagegen, gleich angefahren zu werden.
Aber ihre Mutter fuhr sie nicht an. Sie betrachtete Leah einen Moment lang, dann blickte sie wieder auf ihren Toast. Sie blieb so lange stumm, dass Leah sich schon zu fragen begann, ob sie überhaupt jemals antworten würde.
»Und Mrs. Leone hat nichts dagegen?«, fragte Lauren schließlich.
»Nein.«
Leah hielt den Atem an. Sie hatte seit einer Ewigkeit nicht mehr bei einer Freundin übernachten dürfen. Dass ihre Mutter Ja sagen könnte, war so, als würde nach einer endlosen Nacht der Tag anbrechen, als würde sich eine Zellentür öffnen.
»Ich muss erst selbst mit ihr sprechen«, sagte ihre Mutter.
Sie dachte darüber nach, das konnte Leah sehen.
Komm schon, Mom, sag Ja, sag Ja, sag Ja …
Hätte sie die Gedanken ihrer Mutter lesen können, dann hätte sie sich zu jedem Einwand ein Gegenargument überlegt, aber sie wusste nicht, was ihre Mutter dachte, während sie ihren Toast anstarrte.
Endlich sagte sie: »Na gut.«
Leah schnappte nach Luft. Vor Überraschung verschlug es ihr die Sprache.
»Ich hole dich am Reitstall ab …«
»Das brauchst du nicht. Wendy ist heute Nachmittag auch da. Mrs. Leone kommt mit den Kindern, damit sie ihr beim Reiten zusehen können. Sie nimmt uns alle in ihrem Auto mit.«
»Ich will, dass du anrufst und mir Bescheid sagst, sobald du dort bist.«
»Mach ich.«
Erneut hielt Leah den Atem an und wartete darauf, dass ihre Mutter es sich anders überlegte. Nach all der Zeit, in der sie ihr praktisch nichts erlaubt hatte, konnte es unmöglich so einfach sein.
Nach einem Moment rang sich ihre Mutter ein schwaches Lächeln ab, stand auf und kam um den Tisch herum, um Leah kurz zu drücken und ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben.
»Ich freue mich, dass du eine
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