Schattennetz
Gespräch.
Inzwischen war Stadtpfarrer Kustermann eingetroffen. Der hochgewachsene Mittvierziger traf die beiden Männer unter dem Kirchenportal und sah im Licht der Straßenlampe, wie blass ihre Gesichter waren. Seine dünnen blonden Haare hingen ihm wirr ins Gesicht. »Es besteht kein Zweifel, dass es Herr Simbach ist?«, fragte er vorsichtig nach.
»Keiner«, antwortete Faller und steckte sein Handy wieder in die Brusttasche.
»Nein, keiner«, bekräftigte Stumper, obwohl er nur einen ganz flüchtigen Blick auf den Toten geworfen hatte.
Der Pfarrer schluckte. Es war einer jener Momente, von denen er schon als Student gehofft hatte, dass ihm das Berufsleben möglichst wenige davon bescheren würde, inzwischen wusste er aber, dass er im Laufe eines Jahres stets einem halben Dutzend Angehöriger die Nachricht vom Tode eines nahestehenden Menschen übermitteln musste. Jetzt war es also wieder so weit.
»Frau Simbach …« Er überlegte und sah zu den Kronen der prächtigen Linden hinauf, die auf dieser Seite das Kirchenschiff säumten. Drüben am Hauptportal war die Musik jetzt verstummt. »Ist Frau Simbach noch an ihrem Stand?«
Faller nickte. »Ich geh davon aus, ja.«
»Warten Sie auf Leichtle«, entschied Kustermann. Er strich sich nachdenklich über den geschlossenen Mund. Als ob er nach passenden Worten suchte, blieb er für einen Moment schweigend stehen und löste sich dann langsam von den beiden Männern, um sich in Richtung Fußgängerzone zu entfernen. Seine schlanke Gestalt wurde im fahlen Licht der Straßenlampen zu einem Schatten und verlor sich in der nächsten Seitengasse.
»Keine angenehme Aufgabe«, kommentierte Stumper. »Da gehört viel innere Kraft dazu, dies ständig tun zu müssen.«
Faller sah vier miteinander herumalbernde Personen näher kommen, weshalb er in die Kirche zurückging und Stumper andeutete, es ihm gleichzutun. Sie ließen die schwere Holztür von innen einrasten. Die plötzliche Stille, die sich nach dem Ende des musikalischen Programms breit gemacht hatte, wirkte ernüchternd und fast bedrohlich. Durch die gotischen Spitzgiebelfenster an der Südseite drang nur noch wenig Licht ein, weil draußen die Scheinwerfer abgeschaltet worden waren.
Die beiden Männer lehnten schweigend an der letzten Kirchenbank und sahen in den dunklen Chorraum mit dem abgehängten Kreuz. Was für ein Kontrast, musste Faller denken. Da draußen die lockere Stimmung eines ausgelassenen Sommerabends – und ein paar Schritte davon entfernt das Lebensende – der Tod. Für eine Frau eine schicksalhafte Nacht. In diesen Minuten würde sie erfahren, dass ab sofort alles anders sein würde. Anders. Vielleicht sogar besser. Faller versuchte, diesen Gedanken zu verdrängen. Wie konnte ihm so etwas überhaupt jetzt in den Sinn kommen? Natürlich wusste jeder in der Stadt, wie es um die Ehe der beiden stand. Aber auch über Streit und Missgunst hinweg war der Tod eines Menschen ein schwerer Schlag.
Es klopfte. Faller holte tief Luft und öffnete. Draußen war es inzwischen still geworden. Der Mann, der in der Tür erschien, füllte den ganzen Rahmen aus. Leichtles enorme Silhouette zeichnete sich schwarz vom helleren Hintergrund ab. »Guten Tag, die Herrn«, grüßte er mit gedämpfter Stimme und kam herein. Faller ging einen Schritt zurück und ließ die Tür einrasten.
»Danke, dass Sie so schnell gekommen sind. Herr Stumper ist auch hier«, bemerkte er und wies auf den anderen Mann, der im Dunkeln ebenfalls nur schemenhaft zu erkennen war.
Leichtle versuchte, die Atmosphäre zu entspannen: »Sie wissen doch: Wenns ums Geschäft geht, kommt Leichtle Tag und Nacht.« Es sollte einer seiner Scherze sein, die in solchen Situationen eher als schwarzer Humor anzusehen waren. Doch die beiden Männer gingen nicht darauf ein.
»Er liegt oben«, sagte Faller sachlich, aber laut. Dem Nachhall der Stimme folgte die absolute Stille. Leichtle erkannte, dass eine Konversation nicht gewünscht war. »Also, gehen wir rauf«, entschied er.
Stumper überlegte für einen kurzen Moment, wie es Leichtle wohl schaffen würde, seinen massigen Körper bis zur Turmspitze hinauf zu bewegen. Doch dann musste er feststellen, dass der Leichenbestatter durchaus in der Lage war, Faller die Treppe hinauf zur Orgelempore zu folgen. Stumper schloss sich ihnen an und hatte Mühe, dicht am Lichtkegel der Taschenlampe zu bleiben. Noch immer wollten sie im Kirchenschiff die Deckenbeleuchtung nicht einschalten, um nach außen hin
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