Schattennetz
Linkohr sachlich.
»Eigentlich schon. Hier wird immer abgeschlossen.«
»Und die Kirche? Wann wurde die heute abgeschlossen?«
»Nach der ›Stäffelespredigt‹, um acht vielleicht. Ich hab abgeschlossen, nachdem ich noch mal reingeschaut hab, ob jemand drin ist.«
»Unten«, stellte Linkohr klar, als wüsste er, was gemeint war.
»Ja, unten. Ich ruf dann noch: Hallo, ist jemand da?, und wenn sich keiner meldet, schließ ich zu.«
»So war es auch heut Abend?«
»Ja.«
Linkohr gab mit einem zufriedenen Kopfnicken zu verstehen, dass er weitergehen wollte. Kustermann knipste im Treppenaufgang das Licht an und stieg voraus. Auf dem ersten Zwischenboden rauschte das Gebläse der Funkanlagen. »Mobilfunk«, erklärte Kustermann und drehte sich zu Linkohr um, der die grauen Schaltschränke kurz betrachtete und gleichzeitig darüber nachdachte, wer wohl alles einen Schlüssel für Kirche und Turm hatte.
Vorbei an der gähnenden Schwärze des Kirchendachbodens strebte der Pfarrer dem nächsten Treppenaufgang zu und knipste das Licht für den über ihnen liegenden Glockenstuhl an.
»Lassen Sie uns vorausgehen«, entschied Linkohr und gab den Uniformierten hinter ihm zu verstehen, dass einer auf dieser Etage bleiben solle. Wortlos tat dies der Jüngere, während sein Kollege, gefolgt von Linkohr, die nächste erklomm und dabei die Dienstwaffe aus dem Gurt nahm. Der Kriminalist drehte sich im Weitergehen um und wandte sich an den Stadtpfarrer und an Gunzenhauser: »Sie bleiben bitte auch zurück.« Die beiden Männer kamen der Aufforderung ohne Widerspruch nach.
Der Beamte mit der gezogenen Waffe stieg weiter nach oben und näherte sich jetzt vorsichtig dem Glockenstuhl, in den sich die seitlich verschalte Treppe erhob. Als der Fußboden vor ihm in Augenhöhe lag, blieb er kurz stehen, um aus dieser Perspektive einen Teil des Raumes zu überblicken. Doch außer einem Metallgestänge, das wohl zu den Glockenaufhängungen gehörte, war nichts zu sehen und zu hören.
Er stieg zwei, drei Stufen weiter und verharrte erneut, die Waffe jetzt nach vorne gerichtet. Es war nicht auszuschließen, dass sich jemand hinter den großen Glocken verbarg. Und wenn dies so wäre, gaben er und Linkohr eine gute Zielscheibe ab. Blitzartig suchten seine Augen Glocken und Gestänge nach Verdächtigem ab. Doch nirgendwo war ein Schatten oder etwas Verdächtiges zu entdecken. Bis er seinen Kopf leicht nach rechts drehte. Obwohl darauf gefasst und ein Berufsleben lang mit Schrecklichem konfrontiert, traf es ihn wieder einmal wie ein Donnerschlag. Dort lag ein Mensch. Ein Mann.
9
Für den Arzt, der in dieser Nacht den Notdienst versah, gab es zunächst keinen Zweifel: Der Tote im Kirchturm war an Herzversagen gestorben. Und zwar vor etwa fünf bis sechs Stunden. »Aber es ist doch ziemlich unwahrscheinlich, dass innerhalb von vier Tagen zwei Menschen da oben einen Herzinfarkt erleiden«, meinte Linkohr und blickte sich im Glockenstuhl um, während der Arzt seine Plastikhandschuhe in einer Tüte verstaute.
»Bedaure, ich kann Ihnen nur sagen, wovon ich überzeugt bin. Wenn Sie es aber so ausdrücken …« Er räumte seinen Einsatzkoffer wieder ein, »… tja, dann schlag ich vor, Sie lassen obduzieren. Dann bin ich die Verantwortung los.« Es klang, als halte er es geradezu für ausgeschlossen, eine Fehldiagnose abgegeben zu haben.
Linkohr spürte, dass er eine Entscheidung treffen musste. Die beiden Uniformierten und Pfarrer Kustermann standen ratlos an der Treppe und Hubert Gunzenhauser lehnte kreidebleich an der Wand. Der Rentner wusste nicht, ob ihn der Fund einer männlichen Leiche erleichterte oder noch mehr belasten sollte. Immerhin aber bestand die Hoffnung, dass seine Frau noch am Leben war. Der Tote, auf den er einen flüchtigen Blick geworfen hatte, kam ihm irgendwie bekannt vor. Es war mit Sicherheit ein Einheimischer. Aber keiner kannte seinen Namen.
Linkohr informierte den diensthabenden Staatsanwalt, der sich nach dem sechsten Freizeichen verschlafen meldete und grußlos darauf drängte, den Sachverhalt knapp geschildert zu bekommen. Linkohr erklärte, dass er angesichts des vorausgegangenen Todesfalls, der bislang nicht aktenkundig geworden sei, eine Obduktion beider Leichen für sinnvoll halte. Der Staatsanwalt verlangte Auskunft über das freitägliche Geschehen, doch gab ihm der junge Kriminalist erneut zu verstehen, dass es dazu noch keinerlei Erkenntnisse gab. Wieder hakte der Jurist nach, doch ging das Gesagte in
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