Schattennetz
hatten sie schon die seltsamsten Fälle erlebt.
Unterdessen traf auch ein Hundeführer ein, der zusammen mit Beamten der Bereitschaftspolizei aus Göppingen die gesamte Kirche durchsuchen sollte. Dekanin Grüner und Pfarrer Kustermann hatten sich bereit erklärt, sämtliche Räume zu öffnen, auch wenn das Hauptinteresse des Einsatzleiters dem Turm, vor allem aber dem riesigen Dachboden über dem Kirchenschiff galt. Dort, unter dem spitz und steil aufragenden Holzgewölbe, lagerte eine Vielzahl sakraler Gegenstände, verpackt in Kartons und Kisten, über die sich respektlos Staub und Schmutz verteilt hatten, die durch einige Ritzen zwischen den Dachziegeln hatten eindringen können. Taubenkot ließ darauf schließen, dass es irgendwo auch größere Öffnungen geben musste. Ein paar Leuchtstoffröhren, die an roh belassene Balken geschraubt waren, tauchten den Raum in ein fahles Licht. Von den hölzernen Sparren wogten sanft Spinnennetze, an denen der Staub der Vergangenheit klebte. Den Beamten fiel die Vorstellung schwer, dass sie nur ein dünner Holzboden von dem Kirchenschiff unter ihnen trennte, wo seit Menschengedenken kunsthistorische Schätze und religiöse Andacht vereint waren.
Brotus, der Schäferhund, zerrte ungeduldig an der Leine. Sein Herrchen, ein uniformierter Hauptkommissar, war mit vier Kollegen der Bereitschaftspolizei bei den Schaltkästen der Mobilfunkanlagen stehen geblieben, um auf die Anweisungen des Einsatzleiters zu warten. »Die Vermisste könnte hier oben gewesen sein«, erklärte er. »Sie ist Mesnerin und hat noch ein Stück weiter oben bei den Glocken putzen wollen. Es sieht aber danach aus, als ob es dazu nicht gekommen ist. Deshalb wollen wir ganz sicher gehen und hier oben jeden Winkel durchsuchen.« Er deutete in den nur diffus erhellten Dachboden hinein. »Ganz vorne, überm Chorraum, also überm Altar«, fuhr er fort, »da sollten Sie darauf achten, dass der Holzboden endet, weil sich dort das gemauerte Gewölbe des Chors abzeichnet, in das man von oben hineinsteigen kann.« Er blickte in erstaunte Gesichter. Um gar keine Verständnisfrage aufkommen zu lassen, die er ohnehin nicht hätte beantworten können, fügte er schnell hinzu: »Jedenfalls hat der Stadtpfarrer das so gesagt.« In seinem Funkgerät, das an einem schmalen Gurt vor seiner Brust hing, rief eine blecherne Stimme eine Nummer. Der Beamte wusste, dass er gemeint war, drückte eine Taste und meldete sich knapp: »Hört.«
»Zur Information: Der Tote ist identifiziert«, kam es zurück und der Einsatzleiter hielt das Gerät dichter an sein Ohr. Weil der Name ausblieb, drückte er wieder die Sprechtaste und drängte ungeduldig auf weitere Angaben, während sich der Hundeführer und die vier uniformierten Kollegen untereinander kurz verständigten. Sie wollten mit der Durchsuchung des Dachbodens auf der linken Seite beginnen und im Uhrzeigersinn vorgehen.
Als die Stimme im Funkgerät den Namen des Toten nannte, schlug es im Glockenstuhl oben 9 Uhr. Der Einsatzleiter hatte kein Wort verstanden.
11
»Müssen wir den kennen?«, fragte Häberle, der in Linkohrs Büro am Besuchertisch saß und bereits über die Zusammenstellung einer Sonderkommission nachdachte.
Der junge Kollege hinterm Schreibtisch, der gerade telefonisch erfahren hatte, wer der zweite Tote im Kirchturm war, schüttelte langsam den Kopf. »Ist mir kein Begriff. Ich lass mal bei den Kollegen im Streifendienst nachfragen.« Als Häberle nickte, drückte Linkohr zwei Tasten am Telefon und informierte Revierleiter Watzlaff von der neuesten Entwicklung. Watzlaff, der wie Häberle ein Mann des Volkes war und großen Wert auf Orts- und Personenkenntnisse legte, anstatt die Beamten mit Bürokratismus zu gängeln, versprach, sich sofort umzuhören, fügte jedoch hinzu: »Wenn mich nicht alles täuscht, hat der irgendwo so ein Immobiliengeschäft. Bin mir aber nicht sicher. Möglicherweise vermarktet er alte Industriebrachen in dem Gebiet der ehemaligen DDR und sonst wo im Osten.«
»Okay, danke«, sagte Linkohr und beendete das Gespräch.
Häberle hatte bereits zum örtlichen Telefonbuch gegriffen, das auf Linkohrs Schreibtisch lag. »Wie schreibt sich das noch mal?«, fragte er, um sich den Namen des Toten noch mal geben zu lassen.
»Czarnitz. Rolf Czarnitz«, erwiderte Linkohr. »Mit Cz am Anfang.«
Häberle blätterte und hatte die entsprechende Seite rasch gefunden. »Hier, tatsächlich. Czarnitz, Gewerbe-Immobilien, Osteuropaspezialist.« Er reichte
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