Schattennetz
Chefermittler der Kriminalpolizei in der nahen Kreisstadt Göppingen, war an diesem Dienstagvormittag im weißen Dienst-Audi entspannt die 20 Kilometer südwärts nach Geislingen gefahren. Seit nicht mehr Helmut Bruhn der Chef war und seine cholerischen Anfälle an den Untergebenen abreagierte, war die Atmosphäre wesentlich entkrampfter. Zwar hatte sich bei Bruhns Abschied gezeigt, dass er im Grunde seines Herzens gar nicht der hartgesottene Mensch war, für den man ihn immer gehalten hatte, doch mit Manuela Maller war eine Nachfolgerin gekommen, die ihren Beamten mehr Freiräume ließ und die bürokratischen Zwänge möglichst gering hielt. August Häberle hatte dies gleich in den ersten Tagen zufrieden festgestellt. So brauchte er auch heute Vormittag seine dienstliche Fahrt zur Kriminalaußenstelle nicht erst absegnen zu lassen. Dass die Angelegenheit merkwürdig war, das war ihm durch Linkohrs Erklärungen klar geworden. Auch Außenstellenleiter Schmittke hatte angeregt, dass Häberle die Sache federführend in die Hände nehmen sollte.
Als er auf die nebelverhangene Schwäbische Alb zufuhr, an deren nördlichem Rand sich die Fünftälerstadt Geislingen an die Hänge schmiegte, musste der altgediente Chefermittler an die großen Fälle denken, die ihn und diesen jungen Linkohr verbanden. Er hatte das Gefühl, als stünde wieder eine größere Sache an. Zwei Tote und eine vermisste Frau – das konnte kein Zufall sein. Schon gar nicht hier draußen in der Provinz, wo merkwürdige Todesfälle ohnehin eine Ausnahme bildeten. Das war damals in Stuttgart anders, als Häberle noch Sonderermittler des Landeskriminalamts gewesen war. Dort hatte er es mit organisierter Kriminalität zu tun gehabt – mit Drogenbanden und Mädchenhändlern, mit gekauften Killern und Erpressern. Er war vor geraumer Zeit wieder aus eigenen Stücken in heimatliche Gefilde zurückgekehrt, zumal er spürte, dass der Stress der Großstadt ihm auf die Nerven ging.
Als er im roten Backsteinhaus der Kriminalaußenstelle Geislingen Schmittke und einige Kollegen begrüßt und in Linkohrs Büro Platz genommen hatte, kam der junge Kriminalist sofort zur Sache. Das Wichtigste war der gefaxte Kurzbericht Dr. Kräuters von der Ulmer Gerichtsmedizin.
»Da hauts dirs Blech weg«, kommentierte Linkohr. Seit der Trennung von seiner Freundin Juliane wagte er es wieder, diesen von ihr verpönten Ausdruck allergrößten Erstaunens loszuwerden. Über ein Jahr lang hatte er seinen Lieblingsspruch unterdrücken müssen.
»Lassen Sie hören«, forderte Häberle ihn auf.
»Kräuter hat sich gleich heut früh an die Arbeit gemacht«, begann Linkohr und sortierte drei Blätter. »Er bestätigt, was unsere Ärzte hier als Todesursache angenommen haben. Akutes Herzversagen.«
Häberle nickte und verschränkte seine kräftigen Arme vor dem voluminösen Oberkörper.
»Die Herren Mediziner haben sich also nicht geirrt«, fuhr Linkohr fort. »Nur, was die Ursache anbelangt, die zu diesem akuten Herzversagen geführt hat, da waren sie möglicherweise ein wenig zu oberflächlich.«
»Ach?« Häberle unterdrückte seine innere Ungeduld. Schließlich hatte Linkohr diese Art des spannenden Erzählens von ihm gelernt.
»Kräuter hält einen Stromschlag für denkbar«, brachte Linkohr das vorläufige Obduktionsergebnis auf den Punkt. »Und zwar bei beiden.«
Die Fahndung nach Maria Gunzenhauser war gleich mit dem ersten Morgengrauen auf das gesamte Stadtgebiet und die angrenzenden bewaldeten Hänge ausgedehnt worden. Während Linkohr und Häberle über dem Obduktionsergebnis brüteten, erfüllte seit 6 Uhr bereits das Knattern eines Hubschraubers den Talkessel. Der Helikopter der Landespolizeidirektion schwebte tief über die beiden Seiten des engen Talkessels hinweg, knapp über den Baumwipfeln, sodass die Besatzung das Waldgebiet langsam Stück für Stück in Augenschein nehmen konnte. Allerdings musste der Pilot ständig den morgendlichen Nebelfetzen und tief hängenden Wolken ausweichen. Die Chance, durch den dichten Blätterwald eine Person zu erspähen, war äußerst gering. Deshalb konzentrierte sich die Crew im Cockpit schließlich auf die freien Flächen auf der Anhöhe, wo Mais und Getreide heranwuchsen. Obwohl es als unwahrscheinlich galt, dass die Frau, die nicht allzu gut zu Fuß war, aus unersichtlichen Gründen mitten in der Nacht auf die Albhochfläche hinaufgestiegen war, so wollten die Einsatzleiter trotzdem nichts unversucht lassen. Schließlich
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