Schattenpferd
schneidenden Schmerz, die durch vergossenes Blut symbolisierte Reinigung. Ich wollte bluten, um zu wissen, dass ich noch lebte. Ich wollte verschwinden, um dem Schmerz zu entfliehen. Die widersprüchlichen Kräfte kämpften in mir, drängten gegen meine Lunge, stießen gegen mein Gehirn.
Ich ging in die Küche, starrte den Messerblock auf der Arbeitsfläche und meine daneben liegenden Autoschlüssel an.
Das Leben kann sich innerhalb eines Herzschlags, innerhalb einer Haaresbreite ändern. Ohne unser Dazutun. Das hatte ich bereits gewusst. Ich nehme an, dass ich es im tiefsten Herzen in jenem Moment, an jenem Abend wusste. Doch ich wollte lieber glauben, dass ich nach den Autoschlüsseln griff, um meiner Selbstqual zu entfliehen. Diese Vorstellung erlaubte mir, weiterhin zu glauben, dass ich selbstsüchtig war.
In Wahrheit brachte mich die Entscheidung, die ich an jenem Abend traf, absolut nicht in Sicherheit. In Wahrheit hatte ich beschlossen, vorwärts zu gehen. Ich überlistete mich, das Leben statt des Fegefeuers zu wählen.
Bevor alles zu Ende war, kam mir die Befürchtung, dass ich es bedauern könnte – oder dabei draufgehen würde.
3
Das Polo-Reiterzentrum von Palm Beach ist ein selbst ernanntes kleines Reich mit Königlichen Hoheiten und einer eigenen Palastwache am Tor. Am Vordertor. Das hintere Tor stand während des Tages auf und war von Seans Reitstall aus in fünf Minuten zu erreichen. Die Leute aus der Nachbarschaft brachten ihre Pferde gewöhnlich nur zu den Turniertagen her und ersparten sich das Unterbringungsgeld – neunzig Dollar pro Wochenende für eine Box aus Stangen und Leinwand in einem Zirkuszelt zusammen mit neunundneunzig anderen Pferden. Ein Wächter schloss auf seiner Runde am späten Abend das Tor. Doch an diesem Abend hatte er seine Runde noch nicht gemacht.
Ich fuhr durch das Tor, den aus Seans Mercedes geklauten Parkausweis am Rückspiegel, für alle Fälle. Meinen Wagen stellte ich in einer langen Reihe anderer Fahrzeuge an einem Zaun gegenüber dem letzten der vierzig großen Stallzelte ab.
Ich fuhr ein meergrünes BMW-318i-Cabriolet, das ich auf einer Polizeiauktion gekauft hatte. Bei starkem Regen war das Dach manchmal undicht, aber der Wagen hatte eine interessante Zusatzausstattung, die nicht aus dem bayerischen Werk stammte: einen kleinen, mit Schaumstoff ausgepolsterten Metallkasten in der Fahrertür, gerade groß genug für ein anständiges Päckchen Kokain oder eine Handfeuerwaffe. Die neun Millimeter Glock, die ich dort aufbewahrte, steckte jetzt im hinteren Bund meiner Jeans, verborgen unter dem locker darüber fallenden Hemd.
An Turniertagen geht es auf dem Gelände so geschäftig und verrückt zu wie in den Straßen von Kalkutta. Golfwagen und kleine Motorroller sausen zwischen den Ställen und den Parcours hin und her, weichen Hunden, Lastern und Anhängern, schwerer Ausrüstung, Jaguars und Porsches, Reitern auf Pferden und Kindern auf Ponys aus, kurven um Pferdepfleger herum, die ihre Pfleglinge mit den sauber geflochtenen Mähnen und den Zweihundert-Dollar-Decken in den Farben ihrer Ställe durch das Gewimmel führen. Die Zelte sehen wie Flüchtlingslager aus, mit mobilen Klohäuschen davor, Menschen, die Wassereimer an den Hydranten neben den ungepflasterten Wegen füllen, und illegalen Einwanderern, die Dungeimer in die riesigen Mistgruben auskippen, die einmal am Tag von Müllautos geleert werden. Menschen reiten Pferde auf jedem freien Fleckchen, Reitlehrer brüllen ihren Schülern Anweisungen, Ermutigungen und Flüche zu. Alle paar Minuten ertönt eine Lautsprecherdurchsage.
Nachts ist das alles anders. Ruhig. Fast verlassen. Die Wege sind leer. Wachleute machen regelmäßig ihre Runden durch die Ställe. Gelegentlich kommt ein Pferdepfleger oder Trainer vorbei, um den rituellen Nachtcheck durchzuführen oder sich um ein krankes Tier zu kümmern. Manche Ställe postieren einen eigenen Wächter in der komfortabel ausgestatteten Sattelkammer. Babysitter für millionenteures Pferdefleisch.
Schlimme Dinge können im Schutz der Dunkelheit geschehen. Rivalen können zu Feinden werden, Eifersucht zu Rache. Ich kannte mal eine Frau, die ihre Pferde von einem privat engagierten Polizisten überall hin begleiten ließ, nachdem man einem ihrer besten Springpferde vor einem mit fünfzigtausend Dollar dotierten Turnier LSD verabreicht hatte.
Während meiner Zeit im Drogendezernat hatte ich auf diesem Gelände einige lohnende Verhaftungen vorgenommen. Jede Art
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