Schattenpferd
war eine Lüge von solchem Ausmaß, dass sie alle früheren Lügen weit in den Schatten stellte. Nichts war für Molly vorbei, außer eine Familie zu haben.
Krystal, schon in ihren besten Zeiten zerbrechlich, war unter dem Druck vollkommen zusammengebrochen. Sie gab ihrem Mann die Schuld daran, was ihrer Meinung nach mit Erin passiert war. Die Entführung, die Vergewaltigung. Landry berichtete mir, dass sie Bruce im Verdacht gehabt hatte, Paris Montgomery zu ihr geschickt zu haben, um das Haus in Loxahatchee zu mieten, in dem das ganze Drama vorbereitet worden war.
Sie hatte ihre Grenze erreicht. Man hätte der Geschichte am Ende ein großmütigeres Aussehen geben und sagen können, Krystal hätte ihre Tochter verteidigt, hätte für sie Rache genommen. Aber traurigerweise glaubte ich nicht daran. Ich glaubte, dass sie Bruce nicht als Strafe für die Zerstörung ihrer Tochter, sondern für die Zerstörung ihres eigenen Märchens umgebracht hatte.
Ich wollte doch nur ein schönes Leben .
Ich fragte mich, ob Krystal bei Bruce geblieben wäre, wenn sie herausgefunden hätte, dass alles, was sie durchgemacht hatte, zumindest teilweise von ihrer Tochter organisiert worden war. Ich vermutete, dass sie Erin die ganze Schuld zugeschoben hätte, und niemandem sonst. Krystal hätte eine Möglichkeit gefunden, Bruce’ Sünden zu entschuldigen und ihr schönes Leben intakt zu halten.
Der menschliche Geist besitzt eine erstaunliche Fähigkeit zur Rationalisierung.
Landry schickte Krystal mit einem Streifenwagen ins Büro des Sheriffs und fuhr Molly und mich dann zu Seans Reitstall. Kein Wort fiel darüber, Molly der Jugendbehörde zu übergeben, wie es in solchen Fällen sonst üblich war.
Die Fahrt verlief größtenteils schweigend. Wir waren erschöpft, niedergedrückt von dem Ausmaß dessen, was vorgegangen war. Das einzige Geräusch im Auto war das Knattern von Landrys Funkgerät. Für mich ein altes, vertrautes Geräusch. Einen Augenblick lang wurde ich nostalgisch, empfand dasselbe Gefühl wie für die Songs aus meiner Jugend.
Als wir das Avadonis-Tor erreichten, rief Landry per Handy Weiss am Flughafen an. Van Zandt war immer noch nicht aufgetaucht, und das Flugzeug stand zum Abflug bereit.
Molly war an mich gelehnt auf dem Rücksitz erschöpft eingeschlafen. Landry hob sie hoch und trug sie ins Gästehaus. Ich ging ihnen ins zweite kleine Schlafzimmer voraus, dachte, was für ein seltsames Familiengespann wir abgaben.
»Armes Ding«, sagte er, als wir zurück auf den Patio gingen. »Sie wird sehr schnell erwachsen werden.«
»Das hat sie schon hinter sich«, erwiderte ich und setzte mich seitwärts auf eine kunstvolle, gusseiserne Gartenbank mit dicken Polstern. »Die war nur anderthalb Minuten lang ein Kind. Hast du Kinder?«
»Ich? Nein.« Landry setzte sich neben mich. »Du?«
»Kam mir immer wie eine schlechte Idee vor. Ich hab zu oft erlebt, wie Leute es vermasselt haben. Und ich weiß, wie sehr das schmerzt.«
Ich wusste, dass er mich beobachtete, mich und meine Worte zu ergründen versuchte. Ich schaute zu den Sternen hinauf und wunderte mich darüber, ihm so viel Verletzlichkeit gezeigt zu haben.
»Aber Molly ist klasse«, fuhr ich fort. »Hat ihre Erziehung selbst übernommen, mit Hilfe solcher Sendungen wie Discovery Channel und anderer Bildungsprogramme.«
»Ich war mal verheiratet«, gestand Landry. »Und hab auch später eine Weile mit einer Frau zusammengelebt. Hat nicht funktioniert. Du weißt schon: der Job, die lange Arbeitszeit, ich bin schwierig. Bla, bla bla.«
»Ich hab’s nie versucht. Bin direkt zu ›ich bin schwierig, bla, bla, bla‹ übergegangen.«
Er lächelte müde, zog eine Zigarette und ein Feuerzeug aus der Tasche.
»Autopackung?«, fragte ich.
»Muss diesen Leichengeschmack loswerden.«
»Ich hab getrunken«, gab ich zu. »Um dagegen anzukommen.«
»Aber du hast aufgehört?«
»Ich hab alles aufgegeben, was den Schmerz abstumpfen lässt.«
»Warum?«
»Weil ich glaubte, ich hätte ihn verdient. Bestrafung. Buße. Fegefeuer. Nenn es, wie du willst.«
»Dumm«, verkündete Landry. »Du bist nicht Gott, Estes.«
»Eine willkommene Erleichterung für alle wahren Gläubigen, da bin ich sicher. Vielleicht dachte ich, ich sollte Ihm zuvorkommen.«
»Du hast einen Fehler gemacht«, sagte er. »Ich glaube auch nicht, dass der Papst unfehlbar ist.«
»Ketzer.«
»Ich sag doch nur, dass du zu viel Gutes in dir hast, um dich von einem schlimmen Fehler kaputtmachen zu
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