Schattenprinz 01 - Der Prinz der Schatten
Herrin, Meister Quent ist in einer der oberen Kammern, doch kann ich Euch dort nicht hineinlassen, denn es ist ein Toter bei ihm.« Und dann lief er unter ihrem belustigten Blick rot an und sagte: » Verzeiht, ich meinte, er ist bei einem Toten, und Meister Ured ist bei ihm.«
» Wer?«
» Ein Fremder, er versteht sich gut auf Heilkräuter.«
Shahila zögerte einen Augenblick, aber dann erkannte sie, dass es besser nicht laufen konnte. Sie schob den Arzt beiseite und ging die Treppen hinauf in besagte Stube. Sie hörte die leicht raue Stimme des Zauberers, der gerade über den Fernen Osten und seine Wunder sprach, die er leider nie gesehen hatte, und trat ohne weitere Umstände in die Kammer ein. Es lag tatsächlich ein Toter auf einem Tisch, nur halb zugedeckt, und seine glasigen Augen starrten sie an. Fasziniert blieb sie stehen und betrachtete den Mann.
Quent sprang auf und deckte den Leichnam rasch zu. » Verzeiht, Herrin, dies ist kein Anblick für eine zarte Frau. Aber wir haben mit Euch auch nicht gerechnet.«
Shahila lächelte dem Alten freundlich zu und sagte: » Ich habe im Hause meines Vaters schlimmere Dinge gesehen, Meister Quent. Ich erinnere mich, dass einmal, nach einem Diebstahl, als der Schuldige nicht gefunden werden konnte, zwölf Männer hingerichtet und ihre Köpfe zur Abschreckung auf den Palastmauern aufgespießt und ausgestellt wurden.«
» Und keiner der zwölf hat gestanden?«, fragte Quent, offensichtlich irritiert.
» Nein, wie sollten sie auch? Es waren Wachen, die mein Vater für ihre Nachlässigkeit bestrafen ließ. Der Dieb wurde nie gefunden.«
Sie löste ihren Blick von dem toten Händler und bemerkte jetzt den dritten Mann im Raum. Er verneigte sich höflich, und sein offenes Gesicht drückte eine Freundlichkeit aus, die sehr vertrauenerweckend wirkte. Shahila erwiderte seinen Gruß mit einem knappen Nicken, aber sie musste sich sehr zusammenreißen, um sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen: Sie kannte ihn! Es war lange her, aber sie hatte diesen Mann schon einmal gesehen. Und sie wusste auch genau, wo.
» Ist Euch nicht wohl?«, fragte der Fremde besorgt, weil sie offensichtlich doch erbleicht war.
» Nun, ich sagte es doch, der Anblick eines Toten ist nichts für Frauen, jedenfalls nicht bei uns in Atgath«, brummte Quent. » Kommt, wir treten einen Augenblick hinaus in den Gang. Hier sind wir ohnehin fertig, nicht wahr, Meister Ured?«
Auf dem Gang hatte sich Shahila wieder in der Gewalt, auch wenn sich ihre Gedanken überschlugen. Sie hatte den Fremden gesehen, vor vielleicht fünfzehn Jahren, als sie noch ein Kind gewesen war. Sie erinnerte sich daran, wie sie bei ihrem Vater auf dem Schoß gesessen hatte, das arglose Kind seiner damaligen Lieblingsfrau, und dann hatten Diener aus einer Seitenpforte diesen Mann in die sonst für alle Fremden verschlossenen privaten Gemächer des Padischahs geführt.
» Was aber führt Euch zu mir, Herrin?«, fragte Quent.
Sie riss sich von ihren Gedanken an glückliche Zeiten los und sagte: » Ich freue mich, dass unsere Männer die Euren bei der Jagd nach diesem Schatten unterstützen können.«
» Ich schätze, ich habe Euch dafür zu danken, Herrin«, sagte Quent, und sie hörte ihm an, wie sehr ihm das gegen den Strich ging.
Der Fremde stand schweigend dabei und blickte freundlich drein. Kaum konnte jemand harmloser wirken – Shahila bewunderte ihn dafür. Sie sagte: » Ich habe gehört, dass sich gestern auch die Bürger der Stadt an der Suche beteiligt haben.«
Quent schnaubte verächtlich. » Die Bürgerwehr, ein wahrhaft tapferer Haufen. Sie griffen zu den Waffen, weil ihnen der Schatten quasi auf den Tisch fiel, und da verteidigten sie sich natürlich, aber sobald sie das eigene Haus verlassen, bekommen sie vor jedem Schatten Angst, und nicht nur vor denen, die dieser verfluchten Bruderschaft angehören.«
» Nun, vielleicht fehlt ihnen nur der rechte Anreiz, Meister Quent«, sagte Shahila. » Seid Ihr nie auf die Idee gekommen, eine Belohnung für die Ergreifung des Mörders auszuloben?«
Quent sah sie stirnrunzelnd an.
Einen Augenblick fürchtete Shahila, dass ihre Idee vielleicht so gut war, dass der Zauberer zustimmen würde, aber dann sagte er: » Nein, besten Dank, Herrin. Ich weiß Euer Bemühen zu schätzen«, behauptete er, aber sein Tonfall sagte das Gegenteil. » Ich fürchte, wenn erst einmal Silber im Spiel ist, verlieren die braven Leute vollends den Verstand. Dann wäre niemand mehr
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