Schattenprinz
würde der Vampirin nicht die Genugtuung geben, ihre Angst zu zeigen. Nun war es an ihr, das souveräne öffentliche Gesicht nachzuahmen, das ihr Vater während persönlicher Krisen zur Schau trug.
Langsam beugte sich Flay vor und hob die Decke auf. Die Kreatur erwiderte Adeles kalten Blick und warf das Stück Stoff mit kühler Absicht über die Reling. »Prinzessin, ich werde dich nicht länger mit Bequemlichkeit belasten. Ich bin Flay, Kriegsführerin von Prinz Cesare, dem Lord von Irland. Und du bist seine Gefangene.«
Im Dämmerlicht wanderte Adele in einem schmutzigen Außenhof des Towers von London auf und ab, wo man sie ohne weitere Worte abgeladen hatte. Zahlreiche Vampire kauerten auf den Zinnen und sahen mit animalischer Neugier zu ihr herunter. Ein Blutdiener, der einen großen Sack über der Schulter trug, kam aus einer düsteren Türöffnung. Er starrte sie ebenfalls an, aber verstohlen unter gesenkten Brauen wie ein geborener Diener. Der erbärmliche Knecht leerte den Sack mit skelettierten Überresten auf einen Wagen, der bereits voller Knochen war, und schien etwas zu ihr sagen zu wollen, falls er überhaupt zu richtiger Sprache fähig war. Doch dann fehlte ihm der Mut. Adele war dankbar, nicht mit diesem abstoßenden Wesen kommunizieren zu müssen. Zwei Blutdiener stemmten sich mit den Schultern gegen den Wagen und schoben ihn unter einem Torbogen hindurch aus ihrem Blickfeld. Krähen erhoben sich unter aufgeregtem Geschrei von den zerbröckelnden Ruinen und folgten dem quietschenden Knochenkarren.
Als sich Adeles Blick zu den schwarzen Vögeln hob, bemerkte sie zwei Vampire, die über die Mauer auf sie zu schwebten. Einer davon war die Kriegsführerin Flay, der zweite ein feingliedriger Mann, der einen annehmbar förmlichen Anzug mit einem langen Schwalbenschwanzfrack trug. Der Vampir war einige Zentimeter kleiner als Flay, doch als sie geräuschlos auf dem Kopfsteinpflaster landeten, zeigte die Vampirin ihre Ehrerbietung, indem sie ein wenig Abstand hielt.
»Ich bin Cesare«, sagte der Mann, während er langsam an Adele vorbeischritt.
Das war er also. Die Prinzessin starrte ihn an. Cesare. Diese Kreatur hatte jede lebende Seele in Irland umgebracht. Er war eines der größten Monster in der Geschichte. Und sie befand sich in seiner Gewalt. Sie fragte sich, welches Spiel er wohl spielte. Hätte man sie als Nahrung gefangen, wäre sie inzwischen sicher nur noch eine ausgesaugte Hülle. Vielleicht wollte Cesare sie für sich selbst. Möglicherweise hatte er vor, sie langsam zu Tode zu foltern. Es war unmöglich zu ahnen, was im Kopf eines dieser Tiere vor sich ging. Doch Adele war sich sicher, dass sie ihnen nicht das Vergnügen gönnen würde, sie betteln oder weinen zu sehen.
Flay forderte Adele auf, Cesare zu folgen. Sie betraten den Gang, aus dem der Blutdiener eben die Knochen getragen hatte. Die Prinzessin folgte den leichten Schritten des Vampirs eine steinerne Treppe hinauf in einen kalten, düsteren Raum, der bis auf einen Strohhaufen in einer Ecke völlig leer war. Wie rücksichtsvoll, dachte sie grimmig, als sie die Kammer musterte, die Überreste der vorherigen Bewohner zu beseitigen.
»Ich werde ein Feuer brauchen, wenn ihr wollt, dass ich am Leben bleibe«, schnauzte Adele. Cesare wandte sich jäh vom Fenster ab, eindeutig überrascht darüber, dass sie Forderungen stellte. Adele war zufrieden mit dieser Reaktion und fragte scharf: »Was wollt ihr von mir?«
»Ah, gut«, antwortete Cesare und verschränkte die Finger vor der Brust. »Ich will zwei Dinge. Zuerst erzähl mir alles, was du über die Kriegspläne Equatorias weißt. Dann erzähl mir von euren Spionen in Großbritannien.«
Adele lachte, zum Teil aus Erleichterung darüber, dass er Informationen wollte, und nicht nur das Vergnügen, ihr Qualen zuzufügen. »Du weißt nichts über mich, aber ich kann dir versichern, ich werde dir auch nichts erzählen.«
Cesare legte den Kopf schief und antwortete schnell. »Prinzessin Adele, du bist neunzehn Jahre alt. Du wurdest in Alexandria geboren. Deine Mutter, die Kaiserin Pareesa, starb, als du sieben warst, bei der Geburt deines verstorbenen Bruders Simon, Prinz von Bengalen. Dein Vater ist Kaiser Constantine, der Zweite dieses Namens und der Dritte seiner Linie. Sowohl er als auch eure Regierung sind bestürzt über die Aussicht, dass du, eine Frau, seinen Thron erben wirst. Sie befürchten, dass du nicht fähig bist zu regieren und dass unter deiner schwachen Hand die
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