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Schattenprinz

Schattenprinz

Titel: Schattenprinz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clay und Susan Griffith
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Horizont auf. Ein dunkler Umriss kauerte am glänzenden Band eines Flusses. Es war London, die große Stadt. London, der Sitz des Vampirclans, der Großbritannien regierte.
    Es gab viele Berichte über das London des neunzehnten Jahrhunderts, wie es ausgesehen hatte, bevor die Vampire kamen. Die junge Prinzessin war von den Beschreibungen und Bildern der Pracht dieser Stadt verblüfft gewesen. Es war das Zentrum von Kunst, Wissenschaft und Technologie gewesen, das Zentrum der Welt. Jetzt war es das Herz eines leichenhaften Königreichs. Vor Jahrhunderten hatten sich Reisende oft beklagt, dass London stank, nach Rauch und Chemikalien und dichten Menschenmengen. Adele konnte bezeugen, dass es immer noch grauenhaft roch, doch nun war es der Gestank nach Blut und Verwesung.
    Sie hatte eine ziemlich klare Vorstellung davon, was sie gleich sehen würde. Seit Jahren erreichten entsetzliche Berichte über den elenden Zustand der großen Städte Nordeuropas den Süden. Adele waren Schauer über den Rücken gelaufen, wenn sie die grausigen Kommuniqués in ihren warmen, nach Zitronen duftenden Gärten gelesen hatte. Doch diese Berichte hatten die Prinzessin in keinster Weise auf die instinktive Reaktion vorbereitet, die sie überfiel, als ihr die eigenen Sinne den Beweis lieferten.
    Das marode Luftschiff sank tiefer und näherte sich den Kirchtürmen und Kuppeln und den grässlich schiefergrauen Gebäudekomplexen. Adele sah dunkle Hügel, die auf den Alleen, Straßen und Gassen verstreut waren. Bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass es sich bei diesen Hügeln um Leichenhaufen handelte. Die weiten Plätze und engen Höfe der Stadt waren mit Knochen übersät. Die Themse hatte gerade Ebbe, und als das Luftschiff darüberglitt, sah Adele weiße Oberschenkelknochen und Rippen aus dem Morast entlang der Uferlinie ragen. Fast alle Glasfenster der Stadt waren zerbrochen, bis auf einige der bunten Bleiglasfenster von Westminster, erstaunlicherweise. Grünes Gras spross zwischen den Pflastersteinen hervor, während üppige Kletterpflanzen ungehindert Gebäude überwucherten und Statuen von einstmals bedeutenden Menschen verhüllten. Das Luftschiff glitt über das eingestürzte Dach des Parlamentsgebäudes hinweg. Dunkle Gestalten klammerten sich an die Außenseite der von Efeu erstickten Ruinen des Uhrturms Big Ben und erhoben sich in die Luft wie Schmeißfliegen von einem Kadaver. Adeles Herz raste vor Entsetzen und Verzweiflung angesichts so vieler von ihnen.
    Der Kapitän des Luftschiffs brüllte Befehle und riss Adele aus ihren düsteren Gedanken. Die Blutdiener kletterten in die Takelage. Das Schiff reffte die Segel, krängte leicht und begann langsam, über einer ausgedehnten Ansammlung von Bäumen, an denen gerade die ersten Blätter des Frühlings sprossen, beizudrehen. Das Land unter ihnen war einst ein Park gewesen, doch nun hatte man es eingezäunt, und der Boden zwischen den Bäumen war braun und zertreten. Dann sah Adele, warum. Herden von Menschen, nackt oder in Lumpen gehüllt, schlurften ziellos zwischen den Bäumen umher – Nahrung für die Vampirlords der Stadt. Nur wenige von ihnen machten sich die Mühe, zu dem vorbeiziehenden Schiff hochzublicken. Dann kehrten sie schnell wieder dazu zurück, herumzuwandern oder aus einem Teich zu trinken. Ihre verständnislosen Gesichter waren, selbst aus der Entfernung betrachtet, ausdruckslos wie die von Vieh. Adele wurde übel.
    Das Luftschiff kam über dem ausgedehnten, baufälligen Buckingham Palace zum Stillstand. Eine einsame Gestalt stieg vom Dach des Palastes auf, ergriff mit erstaunlicher Anmut die Wanten des Luftschiffs und schwang sich an Bord. Es war Flay. Plötzlich erfasste Wut Adele bei der Erinnerung an ihren Bruder, der achtlos wie ein Spielzeug gegen einen Baum geschleudert worden war, und an das gleichgültige Abschlachten der Menschen, die sich nichts dabei gedacht hatten, ihr als Greyfriars Schützling Unterschlupf zu gewähren. Die Blutdiener wichen schlurfend vor Flay zurück, die nun einen schweren Brokatrock mit breiten Manschetten trug. Er war von einem grellen Grün, das ihre blasse Haut noch fahler leuchten ließ.
    »Prinzessin Adele«, sagte die Vampirin. »Willkommen in London.«
    Adele ignorierte die Kälte des frühen Abends und ließ die Decke fallen. Es widerstrebte ihr, irgendeine Art von Bequemlichkeit von ihrem Feind anzunehmen. Verächtlich starrte sie der Frau in die Augen, ohne mit der Wimper zu zucken. Die kaiserliche Erbin

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