Schattenprinz
empfänglich sie für eine Annektierung wären, falls das eine notwendige Option werden sollte.«
»Ja.« Clark umklammerte seine Zigarre fester. »Aber sicher hätte man eine Reise ins Grenzgebiet doch auch für einen anderen Zeitpunkt ansetzen können. Meine Ankunft wurde schon vor Monaten geplant.«
Lord Kelvin lächelte ohne Fröhlichkeit. »Damit war keine Kränkung beabsichtigt, das versichere ich Ihnen, Senator. Die Reise Ihrer Kaiserlichen Hoheit wurde bereits vor mehreren Monaten geplant. Bevor die Verhandlungen bezüglich Ihrer Hochzeit abgeschlossen waren.«
Die wuchtige Tür öffnete sich, und ein Ordonnanzoffizier kam ohne Umschweife auf Lord Kelvin zu, reichte ihm einen Umschlag und trat dann einen Schritt zur Wand zurück, um auf eine Antwort zu warten. Es machte Kelvin stutzig, dass die Nachricht per Bote und nicht über die Vielzahl von pneumatischen Röhren kam, die dem Palast als Kommunikationssystem dienten. Hunderte solcher Röhren verliefen in dem gewaltigen Gebäude, und man konnte ihr metallisches Klappern Tag und Nacht durch die Räume hallen hören. Entschlossen öffnete Kelvin den Umschlag, zog ein dickes Blatt Papier heraus und überflog es zügig. Seine Stirn umwölkte sich, und er las es erneut.
Dann reichte Kelvin die Nachricht an Admiral Kilwas weiter, der sie kurz studierte und dann alarmiert aufsprang. Clark erhob sich ebenfalls, und seine Hand fuhr instinktiv zum Holster seiner Waffe.
»Was ist los?«, bellte der Senator.
Bestätigung suchend musterte Lord Kelvin das aschfahle Gesicht des Admirals. Eindeutig hatte er die Nachricht nicht missverstanden. Es war tatsächlich das Ende der Welt.
Der Premierminister sah Senator Clark an und sagte mit düsterer Deutlichkeit: »Der Hof erhielt soeben eine Nachricht von Colonel Anhalt, dem Kommandanten der Hausgarde Ihrer Kaiserlichen Hoheit der Prinzessin. Das Schiff Ihrer Kaiserlichen Hoheit Prinzessin Adele wurde angegriffen. Es stürzte unter großen Verlusten ab. Ihre Kaiserliche Hoheit die Prinzessin wird vermisst. Man nimmt an, dass sie von den Vampiren gefangen genommen wurde.«
»O nein«, hauchte Lord Aden.
»Gefangen? Oder getötet?«, fragte Clark kalt.
»Das wissen wir nicht. Wir haben keine Ahnung, wo sie ist. Oder ob sie noch lebt.«
»Nun, dann werden wir vorerst davon ausgehen, dass sie noch am Leben ist.« Clark rückte seinen Säbel zurecht. »Bringen Sie mich zum Kaiser. Es ist Zeit, einen Krieg zu beginnen.«
Lord Kelvin nickte traurig und klappte sein Programmbuch zu.
8
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L ondon war ein Leichenhaus.
Adele roch die Stadt, lange bevor sie sie sah. Trostlose Stunden waren verstrichen, in denen sie in der Kabine des armseligen Luftschiffs eingesperrt gewesen war, mit nichts als den Gedanken an ihren armen Bruder, um ihr Gesellschaft zu leisten. Bei Sonnenaufgang erlaubte man ihr, unter wachsamen Augen an Deck zu kommen. Sie hüllte sich in eine stinkende Decke, um das Zittern in Schach zu halten, das nur zum Teil von der feuchtkalten Luft herrührte.
Als der Schatten des Luftschiffs von der schiefergrauen See auf das wogende Grün Südenglands glitt, keimte ein Funken Faszination in Adele auf, der sie dankbarerweise von ihrer Lage ablenkte. Das Land weit unter ihr war das Land ihrer Vorfahren, ein Reich der Legenden und Helden, das von ihrer Familie in hohen Ehren gehalten wurde. Natürlich war kein Mitglied der kaiserlichen Familie je in Großbritannien gewesen, doch in den chaotischen Jahren der Vampirangriffe waren viele Reliquien und Kunstschätze heimlich fortgeschafft worden. Im kaiserlichen Palast in Alexandria hingen Gemälde der englischen Landschaft, die für Adele genauso gut einen anderen Planeten hätten darstellen können. Doch nun blickte sie auf diese mythische Landschaft hinunter. Sie war verwildert seit jenen großen Tagen der edlen Gutsherren, die ihre preisgekrönten Färsen vorführten, doch man konnte die Konturen der Felder und Weiden aus der Luft immer noch erkennen. Städte und Dörfer allerdings lagen in Ruinen und waren größtenteils verlassen, nur selten und vereinzelt verrieten dünne Rauchfäden die Existenz der menschlichen Herden der Vampire.
Plötzlich wurde Adele von einem fürchterlichen Gestank überwältigt. Sie hustete und hielt sich die widerliche Decke vors Gesicht. Nichts, was sie je erlebt hatte, kam dem ekelerregenden Geruch gleich, der zu ihr emporwehte – nicht einmal die Elendsviertel von Kairo im Sommer. Der Grund für den Gestank tauchte am nördlichen
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