Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
Doch dann nickte ich zustimmend. Ich vertraute Shirin, sie würde Mila nichts Böses antun, sie vermutlich nicht einmal willentlich mit Worten verletzen. Wenn die beiden einander mochten, wäre ich ein Idiot mich dazwischenzudrängen, sagte ich mir. Und dann sagte ich es mir noch einmal, weil etwas in mir drin noch immer nicht bereit war, nachzugeben und mich - wenn auch nur für ein paar Minuten - von Mila zu trennen. Doch mir war klar: Um Mila in der Sphäre heimisch werden zu lassen, brauchte es mehr als nur mich und einen Haufen Steine. Sie brauchte Freunde.
Als Shirin allerdings einen Schritt auf Mila zu machte, um sie auf dem Flug nach unten mitzunehmen, wich Mila zurück. Augenblicklich hielt Shirin inne und ließ ihre langen gebogenen Fußnägel auf dem Steinboden aufklacken. Das tat sie immer, wenn sie verlegen war.
Mila schaute sich suchend um, dann deutete sie auf das Wurzelwerk der Fichte, das sich wie ein Flechtwerk über die Mauer ausgebreitet hatte. »Perfekt zum Klettern!«, ließ sie uns wissen.
Die Idee gefiel mir gar nicht. »Die Höhe misst gut und gern fünf Meter.«
»Das ist doch nicht wild. Wenn ich abstürze, lande ich mit meinem Hintern im Farnkraut. Wie soll das außerdem funktionieren, wenn ich hier nicht aus eigener Kraft hoch- und runterkomme - willst du ständig den lebenden Fahrstuhl spielen?«
»Nein, aber zumindest so lange, bis wir eine Leiter gebaut haben.«
Mila winkte mit der Hand ab. »Blödsinn.« Und bevor ich sie mir greifen konnte, kletterte sie auch schon über die Kante. »Bleib schön oben, Tarzan. Jane kann das alleine.«
Ich schnaufte und schaute Shirin verärgert an. Sie zuckte nur lässig mit den Schultern und sprang in die Tiefe. Wunderbar. Mit mehr Eifer als nötig suchte ich die passenden Steine zusammen und schichtete sie auf. Sobald ich mit meiner Arbeit fertig war, baute ich alles wieder auseinander und begann leise vor mich hinschimpfend von Neuem. Als Ranuken neben mir landete, fuhr ich in die Höhe und bohrte ihm den Zeigefinger in die Brust. »Vorsicht«, drohte ich ihm und er hob abwehrend die Hände.
»Hat Shirin dich auch gerupft oder warum bist du so gereizt?«, fragte er mich mit beleidigtem Unterton.
»Ich bin einfach nur genervt, okay?«
Kurz schloss ich die Augen und hörte in mich hinein. Ich führte mich albern auf, und das kannte ich so nicht von mir. Normalerweise fühlte ich mich den meisten Menschen nicht ausreichend verbunden, als dass ihre Handlungen mich sonderlich bewegt hätten. Bei Mila hingegen brachten mich sogar Kleinigkeiten aus dem Gleichgewicht, weil ich schlicht ungeübt darin war, jemandem wirklich nah zu sein. Außerdem entlockte sie mir Reaktionen, die deutlich heftiger ausfielen, als ich es gewohnt war. Ich hatte mich heute aufgeführt wie ein liebestoller, eifersüchtiger, eingeschnappter Schwachkopf. Und dass Schlimme daran war: Ich fühlte mich sehr lebendig dabei, auch wenn es mir enorm peinlich war.
24
Freundschaftsdienste
Mila
Ich konnte nicht aufhören, Shirin anzustarren. Doch anders als bei Sam war es nicht ihr Strahlen, das mich anzog. Ihres war deutlich schwächer als Sams, als hätte es schon vor langer Zeit seine Kraft verloren. Da war zum einen ihr Äußeres, das mich in seiner Exotik schlicht faszinierte. Zum anderen strahlte sie etwas aus, das meine Fantasie beflügelte. Mir jagten Bilder von Räumen durch den Kopf, in denen Seidenbahnen vom Wind aufgebauscht wurden. Eine volle Frauenstimme, die in einer längst vergessenen Sprache sang. Schalen mit Wasser, in denen dunkelrote Blüten schwammen. Je länger ich Shirin heimlich aus den Augenwinkeln betrachtete, desto vielfältiger wurden die Bilder in meinem Kopf, aber sie erzählten alle von einer fernen Vergangenheit und berichteten nichts von der Shirin, die als Schattenschwinge in der Sphäre lebte. Vielleicht lag es daran, dass ihr menschliches Leben, auch wenn es schon sehr lange her war, die stärkeren Spuren hinterlassen hatte.
Zuerst war es mir unangenehm, neben dieser schweigsamen Frau zwischen den Fichten umherzugehen und Hölzer zu sammeln, weil ich trotz größter Anstrengung nicht den Blick von ihr losreißen konnte. Bis mir klar wurde, dass Shirin mich ebenfalls beobachtete, wenn auch um einiges geschickter. Sie war ohne Zweifel neugierig auf das Mädchen, das Sam allen Widerständen zum Trotz mitgebracht hatte. Oder auf das erste Menschenkind seit wer weiß wie lange.
»Ich würde dich gern einmal zeichnen«, setzte ich in der
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