Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
Person, die sie früher einmal gewesen sind. Nur noch Geist und Aura. Deshalb der Name: Körperlose. Wenn es nach mir geht, wirst du niemals eine von ihnen zu sehen bekommen. Sie sind zwar ungefährlich, aber dafür umso gruseliger.« Leider ließ die Verunsicherung auf Milas Gesicht trotz meiner Erklärungsversuche keinen Deut nach und ich konnte es ihr nicht verübeln. »Von diesen ätherischen Wesen geht keinerlei Gefahr aus, glaub mir. Sie sind einfach nur seltsam, okay?«
»Die Sphäre ist nicht gerade ein Wohlfühlort, einmal ganz davon abgesehen, dass sie mir keineswegs das Gefühl schenkt, willkommen zu sein. Körperlose, verbrannte Regionen und dann auch noch dieser Asami, der alles Weltliche hasst, also auch mich.«
Angesichts der Bitterkeit in Milas Stimme begann mein Herz schmerzhaft gegen den Brustkorb zu trommeln. »So trostlos ist es doch nicht. Denk einmal an die Lichtwandlerin, die wir bei der Lichtung gesehen haben. War das nicht wunderschön? Außerdem gibt es auch Schattenschwingen, die der Menschenwelt aufgeschlossen gegenüberstehen. Kastor ist einer von ihnen. Obwohl er eigentlich eher zurückhaltend ist, überkommt es ihn manchmal und dann fragt er mir richtige Löcher in den Bauch. Bei seinen Fragen kommt mir jedes Mal der Verdacht, dass die Welt, die er kannte, nichts mit unserer heutigen mehr gemeinsam hat. Ich meine, nicht bloß die Technik und solche Dinge, sondern die ganze Art zu denken.« Ich kaute auf meiner Unterlippe herum auf der Suche nach einem weiteren guten Beispiel. »Ranuken würde dir gefallen, ein richtiges Wild Child, mit Zottelhaaren und nichts als Schwachsinn im Kopf. Er ist auch ein Schützling von Shirin, die allem Anschein nach immer die schweren Fälle unter ihre Fittiche nimmt. Wenn Ranuken unsere Schule besucht hätte, wäre er hundertpro der beste Kumpel von Rufus geworden. Dann hätten sie gemeinsam das Nachtleben von St. Martin unsicher gemacht. Obwohl Ranuken vermutlich viel zu verquer ist, um sich ernsthaft für Frauen zu interessieren.«
»Vielleicht könnte Chris ihn ja zu diesen Splat-Gun-Aktionen mitnehmen.«
Ich versuchte mir vorzustellen, wie Ranuken wie ein wild gewordener Kugelblitz mit einer Splat-Gun in der Hand durch den Wald schoss, jederzeit Gefahr laufend, sich mit seinen Schwingen im Geäst zu verfangen, und musste grinsen. »Ja, ich glaube, dass wäre genau sein Ding.«
Nachdem Mila sich den Hauptraum der Ruine angesehen hatte - den Blick auf das Lager am Boden nach unserem Erlebnis am Strand tunlichst vermeidend -, führte ich sie wieder nach draußen. Dort umschlang ich ihre Taille und stieß mich vom Boden ab, um auf der oberen Etage zu landen, die ich in mühevoller Arbeit von Geröll und Unkraut befreit hatte. Sie quiekte kurz auf, und kaum dass wir gelandet waren, gab sie mir einen Schlag vor die Brust.
»Du könntest wenigstens fragen, bevor du mich in die Luft zerrst.«
Überrascht rieb ich die Stelle, an der sie mich getroffen hatte. »Es war doch nur ein Katzensprung … Und außerdem gibt es hier keine Treppe.« Ich wusste selbst, dass das keine besonders tolle Erklärung war. Aber es war mir ganz natürlich vorgekommen, sie für den Flug an mich zu nehmen.
Glücklicherweise schien Mila ihren Ärger auch schon vergessen zu haben. Neugierig inspizierte sie den Raum oder vielmehr das, was von ihm übrig geblieben war. »Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass das mal ein wunderschönes Zimmer wird. Die eingestürzte Wand müsste durch Glas ersetzt werden, damit man hinaus aufs Meer blicken kann oder auf diesen Naturgarten.« Ihre Hand deutete auf die windschiefe Fichte und das Heidekraut, das es sich zwischen ihren Wurzeln gemütlich gemacht hatte.
Ich druckste ein wenig herum, dann sagte ich: »Glas klingt gut, aber eigentlich wollte ich es einfach offen lassen.«
»Schau mal, im Moment ist es Sommer und entsprechend warm. Aber glaubst du nicht, dass es im Winter ziemlich heftig ziehen dürfte?«
»Mir macht die Kälte nicht wirklich etwas aus. Wir sollten trotzdem zusehen, dass wir von irgendwoher Glas auftreiben. Du sollst dich hier schließlich wohlfühlen.«
Mila legte mir einen Zeigefinger auf die Lippen. »Moment mal, Kälte macht dir nichts mehr aus? Was hat sich eigentlich noch verändert?«
Und schon hatten wir wieder ein neues Feld geöffnet, was meine Existenz als Schattenschwinge betraf. Dabei hätte ich viel lieber weiterhin über das Projekt Ruine gesprochen, da hatten wir wenigstens etwas, das uns verband.
Weitere Kostenlose Bücher