Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
verängstigen, wenn du nie einem von ihnen begegnen wirst - zumindest wenn Samuel und ich es verhindern können? Außerdem ist die Sphäre in der heutigen Zeit ein harmloser Ort, wenn man ihre Grenzen kennt und niemandes Schlaf stört. Samuel wird dir wohl erzählt haben, dass ich zuerst dagegen gewesen bin, dass er dich mit hierher bringt?«
Ich nickte stumm. Überraschenderweise verletzte es mich nicht, dass Shirin sich so freimütig dazu bekannte, Sam etwas Derartiges abverlangt zu haben. Schließlich hatte sie sich letztendlich anders entschieden und sich damit sogar gegen den Ersten Wächter gestellt.
»Ich möchte dir gern erklären, warum ich Samuel trotzdem unterstütze, obwohl es meiner Aufgabe als Wächterin widerspricht. Ich habe ihn gelehrt, den Bannspruch zu beherrschen. Und ich habe ihm verraten, dass er einen Menschen mit sich in die Sphäre nehmen kann, ohne ihn zu gefährden. Asami und die anderen Wächter sind der Auffassung, dass es unsere Aufgabe ist, junge Schattenschwingen zu schützen - vor der Menschenwelt, aber auch vor sich selbst. Aber Samuel? Nun, er lässt sich ja nichts sagen und schon gar nicht, wenn es um seine Liebe zu dir geht. Mit meinem Schweigen hätte ich ihn mehr gefährdet als Asamis Wut es jemals könnte. Denn Samuel hätte früher oder später auf jeden Fall versucht, zu dir zurückzukehren. Ohne meine Hilfe wäre das bestimmt nicht gut ausgegangen. Und wenn ich ihm nicht in Aussicht gestellt hätte, dass er dich in die Sphäre mitnehmen darf, dann hätten wir ihn verloren.«
Shirin hielt inne und musterte mich eindringlich, sodass ich schlagartig das Bedürfnis verspürte, mich hinter einer Fichte zu verstecken. Sie übte eine solche beeindruckende Wirkung auf mich aus, dass ich vollständig vergaß nachzufragen, warum Sam ihr eigentlich so wichtig war.
Dann griff Shirin erneut ihre Rede auf: »Allem Anschein nach war Samuels Entscheidung auch gar nicht verkehrt, denn du hast den Wechsel ja gut verkraftet. Deshalb werde ich euch helfen, wenn ihr euch an ein paar Regeln haltet.«
»Das werden wir, ganz bestimmt. Sam hat es doch auch gar nicht darauf abgesehen, für Unruhe zu sorgen. Dafür liebt er die Sphäre viel zu sehr. Wir wollen einfach nur zusammen sein und niemanden verärgern, wenn es sich vermeiden lässt.«
Trotz meiner Zusicherung sah Shirin alles andere als überzeugt aus. »Das weiß ich, aber Samuel hat ein Talent dafür, sich den Unmut anderer zuzuziehen. Ich habe Asami noch nie so außer sich vor Zorn erlebt. Es war kein Kinderspiel, ihn heute davon abzuhalten, mir nicht die Vormundschaft über Samuel zu entziehen.«
»Aber es ist dir gelungen.« Ich wollte unbedingt noch einmal bestätigt haben, dass es dieser erhabenen Schattenschwinge gelungen war, einem Widerling wie Asami Einhalt zu gebieten.
Shirin senkte langsam den Kopf. »Vorläufig. Wenn Samuel ihn nicht weiter reizt … aber genau das ist ja meine Sorge. Samuel hat seinen eigenen Kopf, was einerseits gut ist, weil es ihm ansonsten nie gelungen wäre, den Bannspruch zu unterdrücken. Andererseits weigert er sich, auch nur vorübergehend auf deine Nähe zu verzichten. Ich weiß, was Liebe bedeutet, aber bei Samuel muss alles ganz schnell gehen, als könnte er es keine Sekunde länger ertragen, sich nicht vollständig zu fühlen. Und offensichtlich braucht er dazu dich.«
Sosehr mich Shirins Worte auch freuten, musste ich doch für Sam einspringen. »Mit seinem übereilten Wechsel ging es Sam doch nicht nur darum, seine eigenen Bedürfnisse zu stillen. Wenn er erst einmal alles in Ruhe bedacht hätte, dann hätte ich ja noch länger auf ihn warten müssen - und ich habe die vier Monate schon kaum überstanden.«
Shirin klaubte noch ein weiteres Stück Holz auf und fügte es ihrem Bündel hinzu. Mehr würde sie kaum tragen können. Während unseres Gesprächs waren wir zurückgegangen und hinter den Fichten zeichnete sich bereits wieder die Ruine ab.
»Einige Schattenschwingen sind der Meinung, dass es für die Neuzugänge am Besten ist, wenn sie vollständig die Verbindung zur Menschenwelt abbrechen«, sagte Shirin, die dunkle Stimme nicht mehr als ein Raunen. »Ein bewusster Abschied, anstatt sich qualvoll mit jedem Tag ein wenig mehr zu verabschieden, weil die Kluft immer größer wird. Wir sind nicht wie ihr Menschen, wir unterscheiden uns in vielerlei Hinsicht von euch.«
Ich wollte etwas erwidern, doch die Worte Abschied und Kluft raubten mir den Atem. Von all den vielen Dingen, über
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