Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
Die Sphäre ist meine Chance auf ein Leben, das sich echt anfühlt. Aber um vollkommen glücklich zu sein, brauche ich auch Mila. Wieso will er mich zwingen, darauf zu ver - zichten?«
»Weil da noch etwas anderes ist: Asami fühlt sich auch überfordert. So geht es den meisten von uns älteren Schattenschwingen. Du hast einfach keine Vorstellung davon, was dein Bedürfnis, Teil der Menschenwelt zu bleiben und deine Liebste mit hierher zu bringen, an Erinnerungen bei uns auslöst. Und es sieht ganz danach aus, als würde uns daraus jetzt ein Problem entstehen, denn Asami ist mit seiner Meinung nicht länger allein. Er hat andere gefunden, die die Sache genau so sehen wie er.«
Das waren ja wunderbare Nachrichten: Der Erste Wächter hatte in dieser Angelegenheit Verbündete gefunden. »Was kann Asami denn mit den anderen Schattenschwingen im Rücken tun?«
Shirin seufzte. »Hier wird es nie richtig warm. Dabei sehne ich mich danach, endlich wieder Hitze auf meiner Haut zu spüren. Ich kann mich kaum noch daran erinnern, wie sich das anfühlt.«
Ich schluckte meine Enttäuschung über Shirins Ausweichmanöver hinunter. Sie war mir gegenüber sehr nachsichtig gewesen, so sehr, dass nun Asami auf den Plan getreten war. Auch wenn er Shirin sicherlich nicht in der Luft attackiert und geohrfeigt hatte, um sie auf ihren Platz zu verweisen, war die Unterredung gewiss nicht sonderlich angenehm ausgefallen. Es tat mir leid, sie in eine solche Situation gebracht zu haben, aber wenn ich Asamis Drängen nachgab, wäre Mila für mich verloren.
Shirin saß immer noch mit geschlossenen Augen da, jeden Lichtfunken ausnutzend.
»In der Sphäre sind zwar alle wärmeren Orte zerstört worden, aber ich könnte dich mit in die Menschenwelt nehmen. Nur für eine Stippvisite«, schlug ich vor, um die Spannung zwischen uns zu überwinden.
Shirin reagierte nicht. Je länger sie schwieg, desto mehr glaubte ich, wieder einmal eine ihrer unsichtbaren Grenzen, überschritten zu haben. Das war mir bei ihr schon mehr als einmal passiert. Auf manche Fragen oder Bemerkungen reagierte sie unerwartet eisig, ohne dass ich mir den Grund dafür erklären konnte. Damals zum Beispiel, als ich hatte wissen wollen, welche Oase ihr als Pforte gedient hatte. Doch jetzt schenkte sie mir ein nachsichtiges Lächeln.
»Du bist wirklich hartnäckig, Samuel. An der traditionellen Verschwiegenheit der älteren Schattenschwingen hat noch kein Neuzugang so gerüttelt wie du. Wahrscheinlich, weil kaum einer der Jüngeren überhaupt das Bedürfnis verspürt hat, in die Menschenwelt zurückzukehren. Viele von uns haben dort nämlich keine sonderlich guten Erfahrungen gemacht. Wir unterscheiden uns einfach zu sehr von den Menschen, als dass sie es nicht bemerken würden. Und wie die meisten Menschen mit Andersartigkeit umgehen, dürftest du ja wohl erlebt haben.«
Für eine Sekunde flackerte das Gesicht meiner Schwester Sina vor mir auf. Natürlich hatte sie mich gemocht. Trotzdem war mir mehr als einmal aufgefallen, wie sie mich heimlich beobachtete und sich wohl gefragt hatte, was an mir nicht stimmte. In solchen Momenten hatte ich meine Gabe, die Seelenregungen der Menschen lesen zu können, gehasst. Mein helles Leuchten, von dem viele wie Motten vom Licht angezogen wurden, hatte Sinas Misstrauen erregt. Dank meiner Schwester hatte ich recht früh begriffen, dass es nicht unbedingt etwas Unheimliches oder gar Beängstigendes braucht, um Menschen auf Abstand zu halten. Für viele reichte es tatsächlich schon aus, dass sich jemand außerhalb der Norm bewegt, um ihm zu misstrauen. Vermutlich hatte ich sogar noch Glück gehabt, denn ich war in einer modernen, aufgeklärten Zeit und mit einer Augenfarbe, die zwar aufsehenerregend, aber nicht widernatürlich war, geboren worden. Andere Schattenschwingen hatten da bestimmt viel drastischere Erfahrungen gemacht, wie Shirin als Tochter eines archaischen Wüstenvolkes.
Während ich noch meinen trüben Gedanken nachhing, klackerte Shirin mit dem Daumennagel der Reihe nach gegen ihre krallenartigen Nägel. Das Geräusch ging mir durch Mark und Bein, aber ich ließ es mir nicht anmerken. Ich wusste, das war ihre Art, sich zu sammeln.
»Eigentlich bin ich gekommen, um mit dir über Asami zu sprechen. Unsere Strategie, Asamis Einwände zu ignorieren, wird nämlich nicht aufgehen. Allerdings habe ich eine Idee, wie wir uns gegen sein anmaßendes Verhalten zur Wehr setzen können. Dazu muss ich allerdings etwas weiter ausholen
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