Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
Wangenknochen zuckte es beträchtlich. Offensichtlich geriet sein Zorn ein Stück ins Wanken. »Das habe ich überhaupt nicht vor, schließlich hast du ihr ja schon genug wehgetan.«
»Dir scheinbar auch, was mir sehr leid tut, aber ich kann es nicht ändern. Ich hatte keine andere Wahl, Rufus. Du kennst mich doch gut genug, um zu wissen, dass ich euch auf keinen Fall willentlich im Unklaren gelassen habe.«
Einen Moment lang dachte ich, mein Bruder würde weich werden. Doch dafür hatte er zu sehr gelitten. Endlich hatte er für all die angestaute Wut und Verzweiflung ein Ventil gefunden: Sam. »Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du nicht lügst. Wenn du mir also keinen anderen Grund lieferst, kann ich doch nur davon ausgehen, dass du bloß zu gleichgültig warst, um dich zu melden.«
Beinahe reglos stand Sam da, wäre da nicht das leichte Beben in seinen Schultern gewesen. »Denk, was du willst«, sagte er schließlich. »Aber wenn du mir einen Gefallen tun willst, behalt vorläufig für dich, dass ich wieder da bin.«
»Warum? Planst du eine Rückkehr mit Pauken und Trompeten? Achtung, alle herschauen: Der großartige Sam ist wieder da! Was, ihr habt um mich getrauert? Na, vielen Dank, aber jetzt bin ich ja zurück. Also, bitte keine Fragen, und weiter geht’s.«
Für den Bruchteil einer Sekunde flammten Sams Strahlen lichterloh auf, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. »Du bist in den letzten Jahren mein engster Freund gewesen. Eigentlich hätte ich erwartet, dass du besser von mir denkst. Ich verstehe, dass die letzten Monate alles andere als leicht für dich gewesen sind, aber glaub mir, ich hatte einfach keine andere Wahl - ob dir das nun passt oder nicht.«
Zuerst schien Rufus wie benommen von dem unerklärlichen Lichtblitz, der ihn geblendet hatte, aber dann schüttelte er sich und sagte: »Ich gebe dir eine Woche Zeit, alles geradezurücken und den Leuten, die sich Sorgen um dich gemacht haben, Bescheid zu sagen. Sonst tue ich es. Nur, ganz gleich, wie deine Erklärung lauten wird, unsere Freundschaft kannst du ab heute vergessen.«
Ich konnte kaum glauben, was ich da hörte. Sam hingegen blickte ihn prüfend an, dann nickte er zustimmend. »Wie du meinst.«
Nach einem kurzen Zögern, als hätte ihn Sams widerstandslose Zustimmung aus dem Gleichgewicht gebracht, streckte Rufus fordernd die Hand aus. »Das ist übrigens mein T-Shirt.«
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, zog Sam es sich über den Kopf und gab es Rufus. Ehe er sich zum Gehen abwendete, streichelte er mir noch kurz über die Wange und ich konnte den Kummer in seinen Augen sehen. Hinter uns keuchte Rufus überrascht auf, als er Sams Rücken im fahlen Kabinenlicht sah.
»Ich komme morgen Abend zu euch in den Garten, sobald es dunkel geworden ist«, flüsterte er mir zu.
»Sam …« Ich versuchte ihn festzuhalten, doch er entwand sich meinem Griff.
»Bis morgen«, sagte er noch einmal, dann war er gegangen.
Ich blieb zurück mit einer Ahnung von dem Schmerz, den Rufus’ Reaktion ihm zugefügt hatte, und einem Bruder, dessen Wut immer noch nicht verraucht war. Zwar verstand ich ungefähr, warum Rufus so und nicht anders reagiert hatte, aber das änderte nichts daran, dass ich ihn am liebsten nach allen Regeln der Kunst angeschrien hätte. Doch ich erinnerte mich selbst daran, wie sehr ich ihn vermisst hatte, und holte erst einmal kräftig Luft, bevor ich zum Sprechen ansetzte.
»Das war gar nicht gut«, ließ ich meinen Bruder wissen.
»Nein, das war gar nicht gut, was Sam da angestellt hat, auch wenn du das vor lauter Verknalltsein anders sehen magst.« Dabei klang Rufus allerdings gar nicht mehr so überzeugt. »Was zum Teufel hat der Kerl mit seinem Rücken angestellt?«
»Die Antwort würde ziemlich kompliziert ausfallen. Und wie du soeben mit zwei, drei Sätzen bewiesen hast, bist du an einer komplizierten Antwort nicht interessiert, wo du dir doch schon alles so schön zurechtgelegt hast.«
Mein Bruder fuhr sich rabiat durchs Haar, bis seine Locken zu beiden Seiten gleichermaßen abstanden. »Hör mal, ich bin allein von Lissabon zurückgetrampt, weil ich dich an deinem Geburtstag überraschen wollte. Leider bin ich unterwegs hängen geblieben, eine wirklich blöde Geschichte. Jedenfalls komme ich erst heute an und finde zu Hause deine Nachricht, dass du am Hafen bist. Ich warte also eine halbe Ewigkeit an Bord, wundere mich, wo in aller Welt du geblieben bist, und als du endlich auftauchst … Aber
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