Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
und dir von unserer Geschichte erzählen.«
Ich stöhnte innerlich auf. Eine Geschichtsstunde war jetzt so ziemlich das Letzte, wonach mir der Sinn stand. Doch Shirin beachtete mich nicht weiter.
»Vor einer halben Ewigkeit führten wir Schattenschwingen ein vollkommen anderes Leben und auch die Sphäre war ein anderer Ort - die verkümmerten Reste, die du kennengelernt hast, spiegeln nicht einmal ansatzweise die alte Pracht wider. Damals waren wir nicht nur zahlreicher, sondern haben unsere Gaben auch einzusetzen gewusst.
Das war auf der einen Seite ein Segen, da wir zu Dingen fähig sind, die weit über das menschliche Bewusstsein hinausgehen. Die Ruine, die du hier an der Küste gefunden hast, ist ein Überbleibsel von Unterkünften, die Menschen errichtet haben. Schattenschwingen würden so etwas nicht erschaffen. Unsere Städte waren keine realen, sondern magische Orte, Spielwiesen, die unserer Natur entsprachen. Wir brauchen kein schützendes Dach über dem Kopf, weil die Sphäre unser Zuhause ist. Aber wir beherrschten damals die Kunst, mithilfe unserer Aura eigene Orte zu schaffen. Eine Schattenschwinge baut nicht einfach ein Haus, sondern kreiert ein ganz eigenes kleines Universum, das ihre Persönlichkeit spiegelt und in das sie andere einladen kann. Unsere Städte waren Kunstwerke unserer Seelen, überwältigende Parks, in einem Sandkorn verborgene Zufluchten oder auch sich immerzu verändernde Räume, die einen derart gefangen nehmen konnten, dass man alles andere vergaß.
Auf der anderen Seite war es ein Fluch, da alles Helle und Schöne immer auch eine dunkle Seite in sich trägt. Die Kunstfertigkeit, mit der wir unsere Aura beherrschten, brachte auch Blüten wie Versklavung, Ausbeutung und Missbrauch, Größenwahn und Zerstörungswut zum Vorschein. Wir tragen zwar Flügel, aber wir sind alles andere als Engel, Samuel - das haben wir in dieser Blütezeit der Sphäre aufs Beste bewiesen.
Wir Schattenschwingen wissen nicht, wer wir eigentlich sind. Wir sind so alt wie die Menschheit, von der wir ja zum Teil abstammen. Aber wir sind eben auch etwas anderes, nur können wir dieses andere nicht begreifen. Über den Sinn unserer Existenz hat es so viele Ideen wie Schattenschwingen gegeben, könnte man sagen.
Wir waren ein uneiniges Volk, zerrieben zwischen den zwei widersprüchlichen Seiten, die wir Schattenschwingen in uns tragen. Bis es einem von uns eines Tages gelang, unsere Schwäche in seine ganz persönliche Stärke zu verwandeln. Der Schatten, den diese Schwinge über uns gelegt hatte, verwischte die Grenzen zwischen Gut und Böse mehr und mehr, so lange, bis keiner mehr wusste, wer er eigentlich war. Wir waren zu Sklaven des Schattens geworden, ohne es zu ahnen. Es folgte eine Welle des Chaos, die erst ein Krieg zu stoppen vermochte. Nach all dem Schrecklichen, was im Bann dieser einen Schattenschwinge geschehen war, erschien uns der Krieg zunächst beinahe wie eine Befreiung, obwohl die meisten Schattenschwingen in ihm gestorben und ganze Teile unseres Landes verwüstet worden sind.«
Erschöpft legte Shirin eine Pause ein. Während sie gesprochen hatte, war sie immer mehr in sich zusammengesackt. Es fiel mir ausgesprochen schwer, diese stolze Person in einem solchen Zustand zu sehen. Shirin ging stets aufrecht, trug den Kopf vielleicht sogar eine Spur zu hoch, doch jetzt schien allein die Erinnerung an diese dunklen Zeiten sie sehr mitzunehmen. Kein Wunder, dass sie mir davon bislang noch nichts erzählt hatte.
»So schrecklich das auch alles gewesen sein mag, es überrascht mich nicht«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Das lief in der Geschichte der Menschheit doch auch nicht anders und die hat deutlich mehr als einen verheerenden Krieg zu bieten.«
»Ja, das stimmt«, sagte Shirin, richtete sich aber trotzdem kein Stückchen auf. »Bloß die Ausmaße der Zerstörung, die wir Schattenschwingen anrichten können, sind von einer ganz anderen Qualität als die Kriege der Menschen. Denk an das Weiße Licht, aus dem Kastor dich befreit hat. Damit ist ein ganzer Kontinent der Sphäre zerstört worden, er ist für alle Zeiten für uns verloren. Dabei ist das Weiße Licht noch vergleichsweise ungefährlich. Andere ehemalige Kriegsschauplätze haben eine sehr viel unangenehmere Wirkung. Auch wenn die damals eingesetzte Magie allmählich verblasst, kann sie immer noch alles zerstören, das sich ihr nähert. Und wir haben nicht nur in der Sphäre Spuren der Verwüstung hinterlassen.«
»Der Krieg
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