Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
Asamis Körper an und ich machte mich bereit, mich seinem Angriff zu stellen. Soweit kam es jedoch nicht.
»Ich denke, dass reicht erst einmal.«
Die Stimme, die uns da Einhalt gebot und sämtliche Schattenschwingen aufhorchen ließ, war hoch, aber nichtsdestotrotz Ehrfucht einflößend. Ich musste den Kopf in den - Nacken legen, um ihre Besitzerin ansehen zu können, die regungslos über der Versammlung schwebte. Das musste Juna sein, die Einzige unter den Schattenschwingen, die gealtert war, wie Ranuken mir einmal erzählt hatte. Und tatsächlich war Juna die erste Schattenschwinge, an der ich Zeichen von Alter sah: Ihr Haar bestand aus grauen und weißen Strähnen, ihre Haut war von einem Gitternetz aus Falten überzogen und ihre gebeugten Schultern stachen scharf unter dem formlosen Gewand hervor. Sie hatte meine Nachricht recht emotionslos hingenommen und auch jetzt wirkte sie ausgesprochen neutral. Asami blickte sie kalt an, und obwohl sie außer-halb der Wächterhierarchie stand, setzte er ihrer Unterbrechung nichts entgegen. Offensichtlich respektierte selbst er ihre Sonderstellung unter den Schattenschwingen. Wenn ich Glück hatte, würde Juna dafür sorgen, dass ich mir Gehör verschaffen konnte, bevor Asami sich auf mich stürzte.
»Das Tribunal«, fuhr Juna fort, »sollte sich erst einmal dem Verhalten der Wächterin zuwenden, bevor wir uns darüber beraten, wie wir mit dem aufsässigen Neuling verfahren wollen.«
»Moment«, unterbrach ich sie. »Das hier ist eine Versammlung, kein Tribunal.«
»Vielleicht wäre es eine Versammlung geblieben, wenn du uns mit dieser hergerichteten Ruine nicht so deutlich vor Augen geführt hättest, wie sehr sich dein Eigensinn schon manifestiert hat.« Mit einer ausladenden Handbewegung zeigte Asami auf die von Schutt und Grünzeug befreite Ruine und den gerodeten Vorplatz. Sein Schützling Jason, der schräg hinter ihm stand, legte den Kopf schief und grinste mich stumpf an. Da erst bemerkte ich die Decke, die er sich über seine massige Schulter gelegt hatte - Shirins Geschenk, das auf dem Schlaflager gelegen hatte. Asami und sein Helfer Jason hatten sich während meiner Abwesenheit also gründlich umgesehen.
»Seit wann bauen wir Schattenschwingen uns Heime, wie die Menschen es tun?«, setzte Asami hinzu. »Mit Türen und Schlaflagern. Nein, das tut niemand von uns und ganz gleich, was du auch behaupten magst, Samuel: Bei dir wird es auf keinen Fall anders sein. Diese Ruine, die du in ein Obdach für einen Menschen zu verwandeln begonnen hast, ist der Beweis, wie weit es mit dir schon gekommen ist. Wie weit Shirin es hat mit dir kommen lassen.«
»Du schuldest uns eine Erklärung, Shirin«, forderte Juna, die sich nach wie vor weigerte, ihre erhobene Position aufzugeben. »Wieso hast du deine Aufgaben als Wächterin nicht nur vernachlässigt, sondern dich sogar gegen die Regeln gestellt? Du hast diesen Jungen wechseln lassen. Viel mehr noch: Du hast zugelassen, dass er einen Menschen mit in die Sphäre nimmt. Du hast seine Verwirrung unterstützt, wo du nur konntest. Dieser klägliche Versuch, ein Menschenheim zu schaffen, beweist deine Schande.«
Nun regte sich endlich etwas in Junas Gesicht, doch was zum Vorschein kam, war zu meiner Enttäuschung pure Ablehnung. Ganz offensichtlich war sie genau wie Asami mit dem festen Vorsatz hierher gekommen, Shirin und mich abzustrafen, nur, dass sie es so lang wie möglich unter dem Deckmantel der Neutralität versteckt hatte. Als ginge es bei diesem »Tribunal« um Gerechtigkeit! Shirin trat vor mich und wieder einmal bewunderte ich ihre stolze Haltung, als würden sämtliche Anschuldigungen an ihr abprallen. Junas Mundwinkel verzogen sich noch weiter nach unten.
»Ich habe getan, was ich für richtig hielt«, erklärte Shirin geradeheraus. »Im Gegensatz zu dir bin ich eine Wächterin und führe ein Leben, das nicht nur daraus besteht, im Schlaf Moos anzusetzen. Jemand wie du hätte Samuel vielleicht verkümmern lassen, nur damit in der Sphäre keine Unruhe entsteht. Aber mir ist eine lebendige, noch dazu hoch talentierte Schattenschwinge wichtiger als ein paar starre Regeln.«
»Als wenn es dir bloß darum gegangen wäre, diesen Jungen nicht zu brechen.« Junas helle Stimme stockte. »Was ich dir jedoch am meisten übelnehme, ist, dass du angesichts der Zeichen, die der Junge da unter der Armschiene verbirgt, deine Aufgabe nicht gleich an Asami übergeben hast. Wie kannst du es ertragen, auch nur in der Nähe
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