Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
darauf anzusprechen. In der letzten Zeit passierte es mir häufiger, dass ich den Anschein von Aufmerksamkeit nicht mehr aufrechterhalten konnte. Mein ganzes Leben - Schule, Jobben, Zeit mit den anderen totschlagen - kam mir so unerklärlich fern vor. Nicht, dass ich eine Sinnkrise hatte. Das war es nicht. Aber irgendwie war die Verbindung zwischen mir und der Welt nicht mehr bloß schwach, wie früher, sondern regelrecht gestört. Mein Leben und ich funkten quasi auf zwei verschiedenen Frequenzen. Bis auf gestern Abend, als Mila neben mir auf dem Sofa gesessen hatte. Da hatte die Verbindung mit einem Mal Funken geschlagen. Ich stand immer noch unter Strom.
»Bekomme ich jetzt mal eine Antwort?«, fragte Rufus, mittlerweile ausgesprochen genervt. Er kam nie sonderlich gut damit klar, ignoriert zu werden. Aber was sollte ich sagen? Deine Schwester hat mich gestern ziemlich umgehauen, ich kann immer noch keinen klaren Gedanken fassen? Wohl eher nicht.
»Nachdem wir seit gut eineinhalb Jahren jeden Freitag schwachsinnige Filme gucken, bringe ich eben nicht mehr die gleiche Begeisterung dafür auf.« Das war eine Ausrede, und das hörte man ihr auch an.
Rufus verdrehte die Augen. »Du willst es mir also nicht verraten? Mensch, Sam, ich bin schließlich dein … na, du weißt schon. Wir hängen ständig zusammen rum.« Es war typisch für Rufus, dass er die Bezeichnung »bester Freund« nicht aussprechen konnte. Das klang zu altmodisch und traf es vielleicht auch nicht hundertprozentig. Auch wenn Rufus es meisterhaft überspielte, war mir schon klar, dass er den Verdacht hegte, er würde mehr an mir hängen, als ich an ihm. So etwas ging schlecht mit seinem Ego zusammen.
»Okay, ich versuch’ s«, setzte ich an, aber dann fehlten mir schlicht die richtigen Worte. »Ich passe nicht rein … in mein Leben, meine ich. Das fühlt sich alles so unecht an.«
»Dir fällt die Decke auf den Kopf? Hallo, das geht uns doch allen so. Nur noch gut zwei Monate, dann haben wir diesen Schulscheiß hinter uns und gehen auf große Reise mit dem Rucksack.«
Ich warf Rufus einen gereizten Blick zu. Mit dieser Rucksacktour lag er mir schon länger in den Ohren und überhörte stets, dass ich dabei nicht mitmachen wollte. Ich hatte schon genug Abenteuer im Leben, da brauchte ich nicht noch ohne Geld in den Taschen loszuziehen. Außerdem erschien mir St. Martin seit Neuestem sehr verlockend. Nein, nicht St. Martin, sondern Rufus’ kleine Schwester. Womit wir wieder beim Thema waren.
»Ich leide nicht unter Fernweh und auch nicht unter Langeweile. Es ist etwas anderes und es wird schlimmer. Ich bin am richtigen Ort und dann auch wieder nicht. Als wäre ich ein Kuckucksei ohne einen blassen Schimmer von meiner wahren Herkunft, nur mit dem vagen Gefühl, dass etwas schiefläuft. Als würde ich bloß träumen, ich wäre hier, während der wichtigste Teil von mir woanders verwurzelt ist. Überhaupt: Träume. Das wird in der letzten Zeit auch immer schlimmer. Ständig derselbe schwarz-weiße Film. Und wenn ich in der Nacht so richtig abgetaucht bin, kommt mir die Realität am nächsten Morgen total falsch vor. Als würde erst der Schlaf mir die Wirklichkeit zeigen.«
Rufus knabberte nachdenklich an seinem Daumennagel und ich konnte ihm regelrecht ansehen, wie es in ihm drin arbeitete. »Alles bloß ein Traum, hm? Du brauchst einfach mal einen Tapetenwechsel, mein Freund. Und jetzt werde nicht gleich wieder stinkig. Du führst seit Jahren dieses superbrave Leben: kein Alkohol, keine Exzesse, keine Frauen.« Beim letzten Wort schenkte ich Rufus ein Grinsen und sofort zeigte er drohend mit dem Finger auf mich. »Falls du gerade an Mila denken solltest, rate ich dir eins: Vergiss das ganz schnell wieder. Such dir eine andere, mit der du ein paar weitergehende Experimente starten kannst. Meine kleine Schwester ist absolute No-Go-Area für dich, verstanden?«
Rufus sagte das zwar mit einem Grinsen, aber mir war durchaus klar, dass es ihm ernst war. Auch wenn ich sein eifersüchtiges Großer-Bruder-Gehabe nachvollziehen konnte, ging er mir damit doch ein bisschen auf die Nerven. Schließlich hatte ich keineswegs vor, mich nach Rufus-Manier für einen Abend auf Milas Kosten zu amüsieren, um sie anschließend links liegen zu lassen.
Ehe ich ihm allerdings meinen Standpunkt klarmachen konnte, tauchte Luca an Deck auf. Er nickte uns kurz zu, dann prüfte er, aus welcher Richtung der Wind kam, bevor er sich zum Pinkeln an die Reling stellte.
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