Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
Strich.
Augenblicklich funkelte wieder dieser Widerwille in Rufus’ Augen auf. Treffer. »Ja, genau. Das wird bestimmt lustig, besonders weil mein Vater ja so ein Riesenfan von dir ist. Der ist bestimmt begeistert, wenn du dich an Mila ranmachst.«
Großartig, dachte ich, als ich mich umdrehte und den Weg in Richtung Strand einschlug. Das war wohl ein klassisches Eigentor gewesen. Bei Herrn Levander stand ich auf dem Prüfstand und er gab sich nicht die geringste Mühe, seinen Argwohn vor mir zu verbergen. Normalerweise machte ich mir nichts daraus, ich konnte ihn nämlich verstehen. Nur würde dieser Sonntag eh der reinste Nerventest für mich werden, auch ohne einen gereizten Vater im Nacken.
Ein Brennen riss mich aus meinen Überlegungen, denn mit einem Mal begannen die Narben an meinem Arm zu pulsieren, als wollten sie mit aller Gewalt ein Zeichen aussenden. Ich wusste, was das bedeutete und hätte am liebsten laut über meine Dummheit geflucht. Es war eine Warnung. In Gedanken versunken, war ich nämlich fast an der Kneipe vorbeigelaufen, ohne zuvor einen prüfenden Blick auf den Eingang zu werfen. In den letzten drei Jahren hatte ich selbst bei Gelegenheiten, in denen ich deutlich besser aufgepasst hatte, immer mal wieder den Weg meines Vaters gekreuzt.
Hastig trat ich hinter einen Container, gerade noch rechtzeitig, wie die aufgehende Tür bewies. Mit der Hand umfasste ich meinen Unterarm, als könnte ich die Narben dadurch vom Pulsieren abhalten. Ich beobachtete meinen Vater, wie er ins Freie trat, leicht schwankend. Ein großer schwerer Mann mit Händen wie zwei Schaufeln, deren Kraft ich bestens kennengelernt hatte. Obwohl nur schwaches Licht aus der Kneipe drang, konnte ich doch seine Gesichtszüge erkennen. Wie immer verspürte ich Erleichterung darüber, ihm nicht im Geringsten zu ähneln. Ein Fremder wäre nie auf die Idee gekommen, dass Jonas Bristol mit mir verwandt war. Ein tröstlicher Gedanke.
Er legte den Kopf in den Nacken und witterte. Für einen Außenstehenden sah es vermutlich aus, als würde er nur die kühle Luft einatmen, um den Kopf frei genug für den Heimweg zu bekommen. Aber ich wusste es besser: Die Narben auf meinem Arm riefen nach ihm, lockten ihn auf eine Weise, die ich mir nicht erklären konnte. Trotzdem taten sie es und hatten mich schon das eine oder andere Mal an ihn ausgeliefert.
Jonas setzte einen Schritt in meine Richtung und während ich mich bereits für eine Auseinandersetzung wappnete, tauchte plötzlich ein anderer Mann hinter meinem Vater auf und packte ihn bei der Schulter.
»Dein Deckel ist noch nicht beglichen.«
»Nicht jetzt«, erwiderte mein Vater drohend, wobei er die Hand auf seiner Schulter abzuschütteln versuchte. Doch so leicht ließ sich der Wirt nicht abweisen.
»Wenn du nicht zahlen kannst, musst du dir Geld von einem deiner Kumpane leihen. Der Deckel wird jetzt sofort beglichen, oder du setzt nie wieder einen Fuß in meinen Laden. Du weißt, dass es mir ernst ist, Bristol.«
Einen Moment lang sah es so aus, als würde mein Vater sich davon nicht abhalten lassen. Aber dann machte er mit einem Knurren kehrt und verschwand in der Kaschemme. Mit langen Schritten hastete ich an der Kneipe vorbei. Während mir zwischen den Schulterblättern der Schweiß ausbrach, fragte ich mich zum hundertsten Mal, warum ich mich von der Küste und dem Hafen nicht einfach fernhielt. Jeder normale Mensch hätte einen weiträumigen Bogen um eine wandelnde Gefahrenquelle wie meinen Vater gemacht, dem selbst mit Kampfsportfertigkeiten wie dem Thaiboxen nicht beizukommen war. Aber es gelang mir einfach nicht, mich von der Küste fernzuhalten, denn das Meer übte einen Sog auf mich aus, der in seiner Intensität ungefähr genauso verwirrend war wie das verräterische Pulsieren der Narben in meinem Fleisch. Narben, die mein Vater mir zugefügt hatte. Nicht, um mich zu verletzen, sondern um mir etwas noch viel Schlimmeres anzutun.
Als ich meinen Fuß endlich auf Sand setzte, atmete ich tief ein. Der Strand versprach Sicherheit, hier endete Jonas Bristols Revier. Er mochte nicht das Meer, sondern die Hafenanlage, und dort auch nur die schäbigen Ecken. Mehr kannte er vermutlich gar nicht von St. Martin, nur sein runtergekommenes Haus, die Docks und die Hafenkneipe. Neben Furcht war Verachtung die zweite Empfindung, die ich für meinen Vater hegte.
Ich schüttelte meine Anspannung ab und schlenderte auf die Brandung zu. Eines hatte ich während meiner Jahre im
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