Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
anderes erwarten.
»Würde mich freuen, wenn alle Mädchen so wenig auf Äußerlichkeiten bedacht wären wie du.« Meine Mutter grinste und ich konnte nicht widerstehen und grinste zurück. »Trotzdem ist es schon auffällig, dass er noch nie eine feste Freundin gehabt hat.«
Zuerst wollte ich sagen, dass er es vielleicht nur nicht an die große Glocke gehängt hatte. Doch das hätte nicht der Wahrheit entsprochen. Sam war tatsächlich noch nie mit einem Mädchen zusammen gewesen, obwohl es unübersehbar die eine oder andere Interessentin gegeben hatte. Allein schon, weil Sam der zwar stille, aber umso charismatischere Mittelpunkt der heißesten Jungenclique an unserer Schule war. Aber trotz aller Avancen war nie etwas Offizielles daraus geworden, wie ich jedes Mal mit großer Erleichterung festgestellt hatte. Das war vielleicht kein besonders schöner Zug von mir, aber Sam mit einer Freundin hätte mich komplett aus der Bahn geworfen.
»Willst du mir durch die Blume sagen, dass du Sam für schwul hältst? Das wäre wirklich ein echt billiger Trick, um mich von ihm abzubringen. Stammt die Idee von Papa?«
Meine Mutter stieß ein schallendes Lachen aus. Leider konnte ich nicht mit einstimmen, denn ich wurde immer unruhiger. Fast wollte ich ihr schon sagen, dass ich die richtige Antwort lieber nicht hören wollte.
Schließlich wischte sich meine Mutter die verschmierte Mascara unter den Augen weg und wurde wieder ernst. »Ich glaube wirklich, dass viel Gutes in Sam steckt. Es ist bewundernswert, wie hervorragend er sein Leben unter Kontrolle hat. Außerdem umgibt ihn eine gewisse Aura - er hat Charisma, würde ich sagen. Vermutlich liegt es an seiner inneren Stärke, daran, dass er sich von all dem Dunklen, das ihn sein Leben lang umgeben hat, nicht hat brechen lassen. Aber trotz allem ist er ein junger Mann und die machen manchmal Fehler. Damit meine ich gar keine großen Sachen, sondern eher Dinge, die aus Ungeduld oder unkontrollierter Begierde heraus entstehen. Sam ist für dich etwas Besonderes, aber deshalb ist er noch lange kein Heiliger. Ich möchte nur, dass du darüber nachdenkst. Damit du nicht vollkommen vor den Kopf gestoßen bist, wenn er einmal eine Grenze überschreiten sollte oder sich einfach dumm benimmt, wie junge Männer es nun einmal gern tun. Ich bin mir schon im Klaren darüber, dass ich dich nicht vor solchen Erfahrungen schützen kann, aber ich habe den Verdacht, dass die Fallhöhe im Fall Sam für dich außergewöhnlich hoch wäre.«
Ich wusste, dass meine Mutter vermutlich recht hatte und es zudem nur gut mit mir meinte. Trotzdem fühlte ich mich überfordert. Ihre Worte warfen ein Licht auf Sam, in dem ich ihn noch nicht zu sehen bereit war. »Unkontrollierte Begierde« - mir schwante, worauf sie hinauswollte. Ohne Zweifel hatte ich mir schon unzählige Male vorgestellt, wie Sams Oberkörper unter dem Shirt aussah. Bislang kannte ich jedoch nur meine eigene Begierde. Wie würde ich wohl reagieren, wenn Sam mich berührte? Keine zufällige Berührung, sondern ganz bewusst, vielleicht sogar fordernd? Erneut meldete sich mein Magen, dieses Mal allerdings nicht mit einem freudigen Hopser, sondern mit einem Gefühl, als hätte ich Eiswürfel verschluckt. Ein realer Sam, ein ganz gewöhnlicher Junge, der sich beim Küssen vielleicht ungeschickt anstellte … war es wirklich das, was ich wollte? Es war so einfach gewesen, ihn aus der Ferne zu lieben.
»Mama, Sam kommt am Sonntag doch nur zum Mittagessen. Er hat mir keinen Heiratsantrag gemacht oder so.« Damit wollte ich mich selbst mehr überzeugen als sie.
»Ich weiß«, sagte meine Mutter und schlang mir den Arm um die Taille. Dann schlugen wir den Weg zum Hafen ein, um nachzusehen, ob mein Vater und Rufus fertig fürs Abendessen waren.
5
Blauviolett
Sam
Ich wollte gerade klingeln, als ich innehielt. Bislang hatte ich vom Haus der Levanders nur die Diele und die Garage kennengelernt. Wenn ich Rufus abholte, hatte er es immer so verdammt eilig wegzukommen, als wäre ihm die heile Welt seiner Familie in meiner Gegenwart peinlich. Nun hatte ich ein kleines Problem: Gehörte es zum guten Ton, dass ich meine Stiefel auszog, wenn ich in den Wohnbereich wollte? Während sich zwischen meinen Schulterblättern Hitze ausbreitete, dachte ich an die aufgetragenen Tennissocken, die ich heute Morgen aus der Schublade meines Schwagers rausgefischt hatte. Der Gedanke war kindisch, trotzdem konnte ich ihn nicht beiseiteschieben. Allerdings war es um
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