Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
meine Gefühle für Sam ging. Lena war eher der realistische Typ - trotzdem hatte sie zugeben müssen, dass Sams Ausstrahlung sich nicht mit gewöhnlichen Erklärungen begründen ließ. Deshalb sprach sie immer vom Sam-Zauber , stets leicht ironisch, wie das so ihre Art war. »Er besitzt die Gabe, die Lücken im Hirn von Mathe-resistenten Menschen kurzfristig mit Wissen aufzufüllen. Der Preis besteht offensichtlich darin, dass das Hirn dieser Leute anschließend zu nichts mehr zu gebrauchen ist.«
Ich hatte geistesabwesend genickt, was sie nur noch mehr angestachelt hatte.
»Der Junge muss wirklich gut im Erklären von Dreiecken sein. Denn eigentlich würde ich darauf tippen, dass solch ein benebelter Zustand nur dann eintritt, wenn man sensationell geküsst wurde. Aber wenn ich das richtig verstanden habe, habt ihr nur über Mathe gequatscht, während Rufus mit im selben Zimmer rumgehangen hat. Wirklich aufregend.« Als Lena den Namen meines großen Bruders aussprach, scharrte Artemis plötzlich nervös mit den Hufen, als würde sie spüren, wie es ihrer Besitzerin dabei erging. Lena und ihre Gefühle für Rufus waren aber auch wirklich ein deprimierendes Thema. Denn mein allgemein heiß begehrter Bruder nahm sie nur insoweit wahr, als er ihre feste Zahnspange gern mit einem Ufounfall in ihrem Mund verglich.
»Mila, könntest du jetzt bitte aus deiner Trance aufwachen, du bist mir unheimlich.«
Es hatte mich erstaunlich viel Kraft gekostet, ihr diesen Gefallen zu tun. »Tut mir leid, dass war alles ein bisschen viel für mich. Ich meine …« Ich hatte nach den passenden Worten gesucht, stattdessen lediglich ein »Sam!« hervorgebracht. Allein seinen Namen auszusprechen, hatte mir fast den Verstand geraubt. »Ich brauche dringend etwas Süßes.«
»Sollst du haben«, hatte Lena entschieden geantwortet, Artemis in ihre Box geführt und mich in die nächstbeste Eisdiele geschleppt, wo ich nach drei Kugeln Schokoladeneis langsam wieder zu mir gekommen war.
Den Rest unserer Verabredung hatte ich mich dann gehörig am Riemen gerissen und das Thema nicht wieder angeschnitten. Lena war zwar eine geduldige Freundin, aber allmählich war es mir selbst ein wenig peinlich, wie vernarrt ich mich aufführte. Also hatten wir über eine Manga-Reihe gesprochen, die wir beide großartig fanden, die wir allerdings in der hintersten Ecke unserer Buchregale versteckten, weil sie für die Augen unserer Eltern doch zu heftig ausfiel, über ein Gartenprojekt, an dem Lena nur mir zuliebe teilnahm - während sie ohne zu zögern Pferdeställe ausmistete, hielt sie schlichte Gartenerde für dreckig -, und über die Frage, ob wir bei den Vorbereitungen einer Frühlingsfeier an unserer Schule mitmischen sollten. Warum nicht?, meinte ich, während Lena die Auffassung vertrat, Schulfeiern wären spießig. Das dachte sie nur, weil Rufus dort nicht auftauchen würde, aber das hatte ich lieber für mich behalten. Die Zeit war schnell vergangen und im Nachhinein hatte es sich wie eine Wohltat angefühlt, nicht ständig an Sam gedacht zu haben. Schließlich führte ich trotz meiner Gefühle für ihn auch noch ein eigenes Leben.
Schon bald hatten meine Mutter und ich alle Papaya-Streifen aufgegessen und sogar noch ein paar Möwen gefüttert, die uns zur Belohnung luftakrobatische Übungen vorführten. Dann wühlte meine Mutter ausgiebig in den Tiefen ihrer Beuteltasche herum, ohne jedoch weitere Naschereien zutage zu fördern. Ich kannte diese Macke von ihr: Sie wollte Zeit schinden. Und das machte mich ehrlich gesagt nervös. Schließlich nahm sie meine Hand und spielte mit den einzelnen Fingern.
»Und, ist Sam so wunderbar, wie du dir immer erhofft hast?« Da war sie also, die Frage, die meine Mutter umtrieb. Und auch gleich genau auf den Punkt gebracht.
»Ja«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
Meine Mutter berührte kurz jede meiner Fingerspitzen und sagte dabei einen alten Kinderreim auf, mit dem sie mich immer zum Nägelschneiden bekommen hatte. Ich ließ es zu, obwohl ich das Bedürfnis verspürte, aufzuspringen und mich im Kreis zu drehen, bis diese seltsam prickelnde Energie, die ich beim Gedanken an Sam verspürte, nachließ.
»Ich will dich mit meiner Neugierde ja auch gar nicht in die Ecke drängen«, fuhr meine Mutter schließlich fort. »Es ist nur so, dass du außergewöhnlich lange für Sam geschwärmt hast. Denk nur an Lena, da wechselt der Favorit monatlich.«
Lena und meine Mutter mochten sich gern leiden und wir saßen
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