Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
abgestimmte Familie beruhigte meine Nerven. Hier konnte nichts Böses geschehen, dieses Haus hatte noch nie Gewaltausbrüche, sinnlosen Zorn und Selbsthass, der in Vernichtungswahn mündete, erlebt. Wenn ich die Augenlider leicht schloss, konnte ich es erkennen. Genau, wie ich Herr Levanders Misstrauen, Rufus’ überflüssige Eifersucht und Milas bislang ungekannte Unsicherheit mir gegenüber ausmachen konnte. Es waren keine Farben, keine Klänge und auch keine Gerüche, die mir all dies verrieten. Was ich vor meinem inneren Auge sah - sofern ich es zuließ -, war ein Abzug dieser Welt, vollgestopft mit Informationen, die mir eigentlich nicht zustanden.
Keine Ahnung, was das sollte. Nur, dass kein anderer die Umwelt so wahrnahm wie ich, da war ich mir mittlerweile sicher. Zumindest hatte das bislang jeder Erklärungsversuch ergeben. Am nächsten war ich meinem seltsam gesteuerten Gehirn in einem Buch über Empathie gekommen. Da stand, dass es Menschen gäbe, die sich besonders intensiv in andere hineinversetzen können, bis sie sie vollkommen verstehen. Ob sich die besondere Wahrnehmung dieser Empathen auch auf Häuser und Orte im Allgemeinen erstreckte, hatte da nicht gestanden. Außerdem fühlte sich diese Erklärung nicht wirklich richtig an. Ich konnte Menschen und ihre Umgebung zwar einschätzen - mehr als alle anderen, wie es schien. Aber dadurch fühlte ich mich den Menschen nicht näher, ganz im Gegenteil. Wenn ich es zuließ, konnte ich absolut distanziert sein, als wäre alles nur ein Computerspiel, vor dem ich hockte. Hundert Prozent Zuschauer. Damit ging ich mir selbst ziemlich auf die Nerven, so wollte ich nicht sein. Ich wollte, dass das Leben mich berührte, dass ich gespannt auf Menschen war und mich an sie gebunden fühlte. Ansonsten war doch alles ohne Bedeutung. Vermutlich war alles Grübeln umsonst, weil sich hinter dem ganzen Zauber einfach ein Schaden verbarg, den ich meinem gewalttätigen Vater zu verdanken hatte. Wahrscheinlich hatte er einmal zu oft gegen meinen Kopf geschlagen.
Während Frau Levander eine Anekdote nach der anderen zum Besten gab, musste ich an den Besuch meines Vaters am letzten Abend denken. Nun, Besuch war nicht unbedingt das richtige Wort, aber Überfall klang dann doch zu drastisch. Da war ich weit Schlimmeres von ihm gewohnt. Meine Schwester war erst kurz zuvor von der Spätschicht im Supermarkt nach Hause gekommen, abgekämpft und einsilbig wie immer. Mein Schwager Lars arbeitete für eine Spedition und verbrachte die meisten Nächte unter der Woche im Verschlag seines Führerhauses. Und wenn nicht, kam er kaum vom Sofa hoch. Der Preis, den die beiden für ihr Familienleben zahlen mussten, bestand in Dauererschöpfung. Wenn es die beiden Kinder nicht gegeben hätte, wäre ihre Wohnung nicht mehr als eine Schlafstätte gewesen.
Sina war gerade im Sessel eingedöst, als es an der Tür klingelte. Ich wollte nicht, dass sie oder die Kinder aufwachten, also hatte ich die Tür geöffnet, bevor ich nachdenken konnte. Für gewöhnlich war das Lars’ Job, wenn er denn mal zu Hause war. Aber der starrte gebannt auf den Fernseher. Eigentlich hätte ich nur etwas aufmerksamer sein müssen, dann wäre mir die Alkoholwolke, die durch die Türspalte drang, nicht entgangen. Genau wie das leise Fluchen und Füßescharren.
In der Sekunde, in der ich die Klinke runterdrückte, begann die Narbe auf meinem Unterarm zu prickeln. Doch bevor ich reagieren konnte, flog die Tür bereits im hohen Bogen auf. Ich sah nur das Gesicht meines Vaters vor mir, übergroß und rot angelaufen. Da verpasste er mir auch schon einen Stoß und ich knallte mit dem Rücken gegen die Wand. Ein heftiger Schmerz durchzuckte meine Schulter, als ich gegen den Garderobehaken stieß, aber ich hatte mich schnell wieder in der Hand. Mit Schmerzen kannte ich mich aus.
Ohne mich weiter zu beachten, wollte Jonas an mir vorbeigehen, doch ich hielt ihn am Arm zurück. Im letzten Jahr hatte ich ihn endlich an Größe eingeholt und überragte ihn nun sogar ein Stück. Vermutlich war ich nicht so kräftig wie er, der sein halbes Leben als Hafenarbeiter verbracht hatte, aber ich war eindeutig schneller und hatte alle Sinne beisammen. Trotzdem würde ich es nicht ohne guten Grund auf ein Kräftemessen ankommen lassen. Da konnte ich noch so viele Stunden mit Muay-Thai-Training verbringen, ich war einfach kein ernst zu nehmender Gegner für ihn, schlicht, weil ich nicht zu derselben Brutalität fähig war. Das hatte ich
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