Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
bereits bei einigen Zusammenstößen feststellen müssen.
»Du kleiner Pisser«, knurrte er.
Ich sah ihm an, wie das Vorhaben, wegen dem er hergekommen war, binnen eines Herzschlags von einem ganz anderen Gefühl überlagert wurde. Einer Empfindung, die nur ich in ihm zu wecken vermochte: Verachtung, gemischt mit dem Wissen, mir unterlegen zu sein - was ihn nur wütender machte. Lange Zeit hatte ich nicht begriffen, warum mein Vater mir gegenüber so empfand. Ich war ihm nicht gewachsen, dass hatte er mir oft genug bewiesen. Woher also diese Überzeugung, ich sei in Wahrheit der Stärkere von uns beiden? Und als ich die Antwort darauf schließlich zumindest ansatzweise herausgefunden hatte, hätte ich sie am liebsten sofort wieder vergessen.
»Du hast hier nichts verloren, Jonas«, sagte ich möglichst ruhig, wobei ich jedoch meine freie Hand bereits zur Faust ballte.
»Nimm deine Pfote weg, oder ich sorg dafür, dass du sie in den nächsten Wochen zu nichts gebrauchen kannst.«
Ich wusste nur zu gut, dass er die Drohung ernst meinte, trotzdem ging ich nicht darauf ein. »Geh jetzt.«
Der Grund, warum er an die Tür meiner Schwester geklopft hatte, war fast vergessen. In den Augen meines Vaters war purer Hass zu lesen, doch ich wich nicht zurück. Wenn er zum Schlag ausholen sollte, würde ich ihm trotz der Enge des Flurs ausweichen. Dieses Mal würde ich nicht zögern und ihm selbst einen harten Schlag verpassen, in der Hoffnung, dass er zur Tür hinaustaumeln würde.
»Papa, was machst du denn hier?« Sina stand in der Tür zum Wohnzimmer und rieb sich ein Auge, bis sie die Mascara verschmiert hatte. Sie spielte die Verschlafene, um ihre Angst zu kaschieren, die unseren Vater nur zusätzlich gereizt hätte. Angst war wie Öl auf sein Feuer.
Bei ihrem Anblick fiel Jonas offensichtlich wieder ein, warum er den Weg in diesen Stadtteil, der so fernab vom Hafen lag, auf sich genommen hatte. In ihm kämpfte sichtlich das Bedürfnis, mir die Zähne einzuschlagen, mit seinem eigentlichen Vorhaben. Mit einem Ruck machte er sich von meinem Griff frei.
»Muss mit dir über was reden.« Dabei mied er den Blick meiner Schwester.
Nun, da mein Vater sich gegen einen Übergriff entschieden hatte, tauchte Lars hinter Sina auf und schaute missmutig drein. »Hallo Jonas, bisschen spät für einen Besuch, was? Die Kinder schlafen schon.«
Mein Vater spannte nur kurz die Oberarme an, da zuckte Lars auch schon zurück. Schon bald, nachdem er mit Sina zusammengekommen war, hatte sich herausgestellt, dass Lars ein Kläffer war, der nicht biss. Lars war zwar oft gereizt und im Leben zu wenig zu gebrauchen, aber er würde weder Sina noch die Kinder je schlagen. Nach all den Jahren im Haus von Jonas Bristol reichte meiner Schwester dies als Qualifikation für ihren Mann wahrscheinlich aus.
Sina berührte kurz und voller Widerwillen Jonas’ Unterarm. »Lars hat recht, die Wohnung ist sehr hellhörig. Lass uns für ein paar Minuten in die Küche gehen. Aber dann musst du dich verabschieden.« Als sie die Tür zur Küche hinter sich zuzog, bedeutete sie mir mit der Hand, dass ich zusehen sollte, dass ich wegkam.
Lars ging wohl etwas Ähnliches durch den Kopf. »Ich will keinen Streit in meinen vier Wänden. Wenn du dich unbedingt mit deinem alten Herrn prügeln willst, tu das draußen auf der Straße.« Er versuchte, abfällig zu klingen, aber ich sah ihm seine Angst an.
Ohne zu antworten, griff ich nach meiner Jacke und brachte Abstand zwischen mich und das Mietshaus. Die Abende waren jetzt im Frühling noch kühl und vom Meer trieb der Wind Regen vor sich her. Trotzdem war ich froh, einfach nur durch die Gegend zu laufen. Mein Vater war schon immer von einer abgrundtiefen Wut erfüllt gewesen, gepaart mit dem festen Glauben, nie zu bekommen, was ihm zustand. Alle waren gegen ihn, das Leben bestand nur aus Ungerechtigkeiten. Es fiel mir nicht schwer, die Selbstherrlichkeit und zugleich das mangelnde Selbstwertgefühl zu erkennen, die sich dahinter verbargen. Kein Problem. Aber seine Empfindungen mir gegenüber waren von einer ganz eignen Klasse, sie speisten sich aus einer anderen Quelle. Wenn ich nicht aufpasste, würde er sich eines Tages selbst vergessen und nur noch auf diese Quelle hören.
»Sam, du machst ein Gesicht, bei dem ich am liebsten einen Krankenwagen rufen möchte.« Mila lächelte, während sie das sagte, aber ihre Augen waren ausgesprochen ernst. »Ist dir mein ›Buntes Essen‹ etwa auf den Magen
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