Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
Wenn man von dem einzigen anständigen Mädchen in St. Martin eine Einladung zum Sonntagsessen bekommt …«
Weiter kam ich nicht, denn Mila versetzte mir einen spielerischen Schlag auf die Schulter, der exakt meine Prellung erwischte und mich vornüberkippen ließ. Ich konnte ein Japsen nicht unterdrücken und brauchte einen Moment, bevor ich mich wieder aufrichten konnte.
»Ich wusste gar nicht, dass du so ein guter Schauspieler bist. Deutlich besser als Rufus, und dass will schon was heißen.« Ihre Stimme klang zwar belustigt, aber es hatte sich auch eine besorgte Note eingeschlichen, während sie sich die Sonnenbrille ins Haar schob. Obwohl mir immer noch schwarze Punkte vor den Augen tanzten, brachte ich ein Lächeln zustande. Zumindest glaubte ich das, bis Mila mich ernst ansah.
»Ist mit deiner Schulter alles in Ordnung?«
Die Lüge lag mir schon auf den Lippen, doch es fühlte sich falsch an. Darum schwieg ich.
»Kann ich mal sehen?«
Ich spürte, wie meine Gesichtszüge erstarrten. »Du willst dir meine Verletzung ansehen?«
Mila nickte und in ihrem Blick spiegelte sich Besorgnis. Keine Sensationsgeilheit, keine Schadenfreude, wie ich sie schon manchmal bei Leuten aus der Schule wahrgenommen hatte. Es war, als löste sich der eisige Griff, der sich mir um die Kehle gelegt hatte. Ich packte das Shirt beim Saum und zog es mir über die Schulter. Ich wusste nicht, wie schlimm der Bluterguss aussah - ich hatte es schon vor Jahren aufgegeben, mir die Verletzungen anzusehen. Früher oder später verschwanden sie wieder, das war das Einzige, was zählte. Als Milas kühle Fingerspitzen meine Haut berührten, schloss ich die Augen. Die Berührung schmerzte und fühlte sich zugleich befreiend an.
»Wie ist das nur passiert? Das muss ja fürchterlich wehtun. Dieser Bluterguss sieht brutal und wunderschön zugleich aus. Es liegt an den Violetttönen und deiner Haut …« Ich hörte das Stocken in ihrer Stimme, als ihr bewusst wurde, was sie da eben laut ausgesprochen hatte. »Entschuldige.«
Ich musterte Mila über die Schulter hinweg. Sie blickte mir gerade in die Augen, was ihr sichtlich schwerfiel. Sie schenkte mir weder ein mitleidiges Lächeln noch nahm sie die Hand von meinem Rücken. Konnte ich es wirklich wagen, ihr reinen Wein einzuschenken? Noch ehe mir meine Vernunft einflüstern konnte, dass meine Familiengeschichten wohl kaum das richtige Thema für unser erstes Gespräch unter vier Augen seien, folgte ich meinem Instinkt.
»Mein Vater ist gestern Abend überraschend in der Wohnung meiner Schwester aufgetaucht. Eigentlich ist das Sperrzone für ihn, er darf sich mir nämlich nicht nähern … Rufus hat dir sicherlich von meinem Vater erzählt, oder?«
Mila nickte und ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie mehr erfahren hatte, als ihr lieb war. Aber auch ein Schamgefühl war darin zu lesen, das ich nicht zu deuten wusste. Was hatte sie wohl von mir gedacht, als sie es erfahren hatte?
»Dass mein Vater jedes Mal zuschlagen muss, wenn er mich sieht, ist eine Sache. Aber wenn er nun anfängt, bei Sina vor der Tür zu stehen und unter fadenscheinigen Gründen in ihr Leben einzudringen, ist das etwas anderes. Natürlich hat er meine Schwester auch nicht gut behandelt, als sie noch bei ihm wohnte. Aber seit sie ausgezogen ist, war es, als hätte er sie vergessen. Und nun taucht er plötzlich bei ihr auf und tut so, als ginge es dabei um alles, nur nicht darum, mich zu sehen.« Ich brach ab, denn erst jetzt wurde mir bewusst, dass mein Vater tatsächlich meinetwegen aufgetaucht war. Vermutlich hatte ich den Hafen schon zu lange gemieden. »Sina ist von ihrem Alltag mit dem Job, den zwei Kindern und einem Mann, der nie da ist, eh schon mürbe. Wenn unser Vater nun wieder aufkreuzt und alles daransetzt, sich mit mir anzulegen, wird sie das nicht lange mitmachen. Ich kann bei ihr und ihrer Familie wohnen, solange alles schön ruhig verläuft. Wenn es Ärger gibt, werde ich gehen müssen.«
»Das kann deine Schwester doch nicht machen!«
Ich drehte mich Mila zu, sodass sie die Hand von meinem Rücken nehmen musste, und zog das Shirt wieder über die Schultern. Eine Falte grub sich zwischen Milas Brauen ein - offensichtlich fühlte sie sich zurückgestoßen. Das hatte ich nicht gewollt. Als ich ihre Hand nahm, sah es einen Moment lang so aus, als würde sie sie mir gleich wieder entziehen. Doch sie ließ zu, dass ich ihre Finger umfasste, und erwiderte die Berührung sogar ganz leicht.
»Sina muss
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