Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
blendete mich nun, als blickte ich direkt in die Sonne. Ich musste die Augen zusammenkneifen, damit ich ihn ansehen konnte. Aber es war nicht nur diese ungeheuere Strahlkraft, die mich erstarren ließ. Auch ihre Wirkung auf mich hatte sich verändert. Sie drang in mich ein, als wollte sie tief in meinem Innersten etwas berühren, als griffe sie nach meiner Seele, um sie zu prüfen. Diese Berührung war keineswegs schmerzhaft, aber sie fühlte sich so intensiv an, dass ich nicht sicher war, ob ich sie ertragen konnte.
»Sam«, sagte ich leise und es klang wie eine Bitte. Im nächsten Augenblick spürte ich seine Arme um mich, dann erst wurde mir klar, dass ich bewusstlos zusammengesunken wäre, wenn Sam mich nicht aufgefangen hätte. Wie durch einen Schleier nahm ich seine Berührung wahr, spürte, wie er mich ein Stück vom Meer entfernt auf den kühlen Sand bettete. Als ich wieder zu mir kam, hockte Sam auf den Fersen und zog den Arm, den er mir um die Schulter gelegt hatte, gerade wieder zurück.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«
Sein Strahlen hatte nachgelassen, es war fast wieder so mild wie früher. Fast schien es mir, als hätte er es mit Absicht gedämmt. Wie absurd. Ich streckte die Hand aus und berührte sein Gesicht, einen Herzschlag lang befürchtend, dass meine Hand ins Leere greifen könnte. Aber das tat sie nicht. Ich spürte Sams Wange und Bartstoppeln. Mit zitternden Fingern fuhr ich ihm durchs Haar, das deutlich länger geworden war und ihm über die Augen fiel. Es war echt und schwer zwischen meinen Fingern. Sam saß vor mir, ein Mensch aus Fleisch und Blut. Eine ungeahnte Wut stieg in mir auf. Ruckartig zog ich meine Hand zurück. »Es tut mir leid«, wiederholte Sam voller Ernst und ich glaubte ihm jedes einzelne Wort. Nur, dass es mir in diesem Moment vollkommen gleichgültig war.
»Vier verdammte Monate und kein Zeichen von dir. Nicht die kleinste Nachricht. Weißt du, wie es mir ergangen ist?« Anstelle einer Antwort sah Sam mich nur an. »Es war die Hölle! Und dabei habe ich die ganze Zeit daran geglaubt, dass du lebst. Wie konntest du mir das antun?«
»Ich hatte keine andere Wahl.«
»Ist das alles? Mehr fällt dir nicht dazu ein?«
Mittlerweile schrie ich, doch das war mir egal. Alle Wut und Trauer, die endlosen Stunden, in denen ich meine Verzweiflung unterdrückt hatte, entluden sich und sprengten aus mir heraus. Und es fühlte sich gut an. Ich war fast von Sinnen vor Zorn, zugleich hätte ich lachen mögen, so befreit fühlte ich mich. Stattdessen begann ich zu weinen, nur, dass ich mich dieses Mal nicht dagegen wehrte. Jetzt, da Sam wieder da war, konnte ich mir alles erlauben. Als er den Arm nach mir ausstreckte, schlug ich danach. Ich stürzte mich regelrecht auf ihn, doch er verwandelte meinen Angriff in eine Umarmung, der ich nicht lange widerstehen konnte. Und so lag ich weinend in seinen Armen, während er sein Gesicht in meinem Haar versenkte und mir beruhigende Worte zuflüsterte, die ich nicht verstand. Ihre Wirkung verfehlten sie trotzdem nicht.
Schließlich versiegten die Tränen und zurück blieb eine wohlige Erschöpfung, die ich nur schwerlich abschütteln konnte. Sams Körperwärme und sein Geruch hüllten mich ein, seine Arme lagen beschützend um meinen Rücken und ihr fester Griff bestätigte mir ein ums andere Mal, dass er wirklich da war. Keine Illusion, die meine zerrüttete Seele erschaffen hatte, sondern ein echter Junge, dessen stoppeliges Kinn an meiner Schläfe kratzte. Weit in der Ferne hörte ich ein gleichmäßiges Glockenschlagen. Elf Mal.
»Nur noch eine Stunde, dann ist mein Geburtstag vorbei.« Meine Stimme erstickte an Sams Shirt, weil ich mein Gesicht einfach nicht von seiner Brust nehmen konnte. Aber er verstand mich auch so.
»Dann bin ich ja genau zum richtigen Zeitpunkt zurückgekehrt. Eigentlich wäre ich noch später gekommen, weil es selbst jetzt im Spätsommer so lange hell ist. Aber ich habe es einfach nicht länger ausgehalten und wäre deshalb um ein Haar unserer halben Schule in die Arme gelaufen.«
Bei dieser Erklärung löste ich mich nun doch aus seiner Umarmung, gerade genug, um einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen. Hier draußen am Meer wurde es in klaren Nächten nie richtig dunkel, zu sehr spiegelte das Wasser den Sternenhimmel.
Sam lächelte mich an und sagte: »Alles Gute zum Geburtstag, Mila.« Dann neigte er den Kopf und seine Lippen berührten meine. Warm und ein wenig
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