Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
Ich lag in der Badewanne, vollgestopft mit dem Geburtstagskuchen, den meine Schwester für mich gebacken hatte. Jonas gab sich nicht einmal die Mühe zu überprüfen, ob ich die Badezimmertür verschlossen hatte. Er warf sich einmal kräftig dagegen und das alte Schloss brach raus. Bevor ich überhaupt verstand, was da los war, hatte Jonas mir bereits seine Pranke auf den Kopf gelegt und mich unter Wasser gedrückt. Im nächsten Moment schon drang mir Wasser in die Kehle. Das war das erste und einzige Mal in meinem Leben, dass ich mich vor Wasser fürchtete. Ich dachte wirklich, ich würde ertrinken, dass mein Vater mich wie eine Katze in der Wanne ersäufen würde. Doch bevor ich bewusstlos werden konnte, packte er mich und zerrte mich über den Wannenrand. Ich weiß noch, wie gut es sich anfühlte, als ich der Länge nach auf den Fliesenboden aufschlug. Lieber harte Fliesen als der weiche Griff des Wassers, dem man sich nicht entwinden kann.
Während ich noch das Badewasser ausspuckte, kniete Jonas sich auf meinen rechten Unterarm und schnitt mit dem Messer hinein. Dabei verlor er kein einziges Wort. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich begriff, was er dort tat. Ich war zu schockiert und außerdem war mein Körper damit beschäftigt, den Sauerstoffmangel auszugleichen. Was mich schließlich wachrüttelte, war nicht der Schmerz, den mir die Klinge zufügte, sondern das Begreifen, dass mir gerade mehr als körperliche Gewalt angetan wurde. Mir fällt nichts ein, womit ich dieses eindringliche Empfinden vergleichen könnte, das unvermittelt durch mich hindurchjagte. Aber ich wusste von einer Sekunde zur anderen, dass ich diese Schnitte auf keinen Fall zulassen durfte. Meine Erschöpfung war wie fortgewischt und ich trat und schlug wie ein Wahnsinniger nach meinem Vater. Damit hatte er nicht gerechnet und kaum, dass er den Griff auch nur einen Deut lockerte, entwand ich mich ihm. Jonas drehte sich schwerfällig um, die Augen glasig wie bei einem Zombie. Allerdings konnte ich nicht eine Spur von Alkohol an ihm riechen. Er packte mich am Oberarm, doch seine Finger glitten an meiner nassen Haut ab, als ich mich vom Boden abstieß. Er langte erneut nach mir und rutschte auf den nassen Fliesen aus. Obwohl mir das Herz bis zur Kehle schlug, trat ich ihm auf die Hand, die das blutige Messer umfasst hielt. Ohne auch nur einen Schmerzenslaut von sich zu geben, ließ er es schließlich los und ich schnappte es mir. Zitternd hielt ich es zur Abwehr vor mich, während mein Vater sich langsam aufrichtete, den Blick auf meinen Unterarm gerichtet, von dem unaufhörlich das Blut tropfte.
›Hast du völlig den Verstand verloren?‹ Meine Kehle schmerzte bei jedem einzelnen Wort. Trotzdem konnte ich mich nicht zurückhalten. ›Wie kannst du mir das antun?‹
Aber Jonas kümmerte sich nicht um meine Frage. Kaum, dass er stand, wollte er sich erneut auf mich stürzen. Mit aller Kraft schlug ich die ramponierte Tür zu und hörte den dumpfen Knall, als sie seinen Angriff bremste. Dann drehte ich mich um und flüchtete.
Später in der Notaufnahme habe ich dann behauptet, dass ich mir die Schnitte selbst zugefügt hätte. Das Messer hielt ich schließlich immer noch in der Hand. Natürlich fiel niemand auf dieses Märchen rein, auch wenn es wegen meiner beharrlichen Lügerei zu keiner Anzeige kam. Denn selbst für den entschlossensten Spinner ist es schwierig, sich selbst solche ausgefeilten Symbole in den Arm zu ritzen. Außerdem prangten auf meiner Haut die Abdrücke, wo mein Vater mich gewaltsam gepackt hatte. Dunkelrot mit einer Spur von Silber. Über diesen silbrigen Schimmer habe ich mir fast mehr den Kopf zerbrochen als über den Wahnsinn, dem mein Vater verfallen war. Irgendwie hat es dem Ganzen so eine seltsame Note gegeben, es war einfach unnatürlich.«
Bei der Anspielung auf den silbernen Schimmer zog sich mein Magen krampfartig zusammen. Nach der Vision, die mich heimgesucht und von der Sam mich befreit hatte, hatte ebenfalls ein Hauch von Silber auf meiner Haut gelegen. Wie Sternenstaub. Ich hatte es verdrängt. Sollte ich Sam davon erzählen? Schweigen breitete sich aus und mit ihm eine Anspannung, von der ich nicht wusste, wie ich ihr begegnen sollte. Dabei hatte ich Sam doch gerade noch versichert, dass ich keine Angst vor der Wahrheit hatte, ganz egal, wie verrückt sie sein mochte. Nun fühlte ich mich nicht mehr halb so mutig, auch wenn ich mir dabei schäbig vorkam. War ich wirklich so ein Hasenfuß?
»Ich weiß,
Weitere Kostenlose Bücher