Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
es ist eine grauenhafte Geschichte und ich wünschte mir wirklich, dass ich sie dir nie hätte erzählen müssen. War es ein Fehler, zu dir zurückzukehren?«
Es waren nicht Sams Worte, die mich aufrüttelten, sondern sein Zurückweichen. Die Resignation, die er ausstrahlte. Dabei wollte ich auf gar keinen Fall, dass Sam sich von mir zurückzog. Ich hatte eine Erklärung eingefordert, wohl wissend, dass sie alles andere als einfach sein würde. Sam hatte sich daran gehalten, nun durfte ich ihn nicht dafür bestrafen, nur weil ich mich überfordert fühlte. Wer nach den Sternen greift, darf anschließend nicht vor lauter Furcht zurückschrecken, wenn er tatsächlich einen geschenkt bekommt. Sam war mein Stern, ihn wieder bei mir zu haben, war ungefähr so wunderbar, wie wenn mir ein echter Stern in die Hand gefallen wäre.
»Sam, ich wollte dich unbedingt zurückhaben und das will ich immer noch. Auch wenn ich zugeben muss, dass es mir wehtut und mich verwirrt, was dein Vater dir angetan hat. Selbst wenn deine Geschichte ab hier, wie ich vermute, noch viel absonderlicher wird, werde ich meine Augen nicht davor verschließen - weder vor deiner Geschichte noch vor dem, was du bist.«
Obwohl Sam sich nicht rührte, glaubte ich zu erkennen, wie die Anspannung von ihm abfiel. »Du glaubst mir also, auch wenn das alles vollkommen absurd klingt?«
Ich musste nicht eine Sekunde nachdenken. »Ja.«
Sam stieß einen erleichterten Seufzer aus, nur um im nächsten Moment auch schon einmal fest die Augen zusammenzukneifen. »Okay, dann kommt jetzt der wirklich schwierige Teil. Dazu sollten wir hoch zur Steilküste gehen. Dorthin, wo es passiert ist. Das würde es mir leichter machen, dir alles zu erklären. Es ist nämlich verdammt schwer, die richtigen Worte für das zu finden, was mir nach dem Sturz widerfahren ist. Ich weiß kaum, wo ich anfangen soll.«
»Du bist also wirklich die Klippe hinabgestürzt?« Für eine Sekunde zerrte der Unglaube an mir. Wie konnte er das nur überlebt haben?
»Gesprungen trifft es eher. Also?«
Sam streckte mir seine Hand entgegen und ich nahm sie. Ihre Berührung fühlte sich genau so wundervoll an, wie ich sie in Erinnerung behalten hatte. So schlugen wir den Weg in Richtung Steilklippe ein. Zwischendurch verstärkte sich wieder die Geräuschkulisse der Party und einen Moment lang dachte ich an Lena, die sich hoffentlich so gut amüsierte, dass ihr mein Fernbleiben noch gar nicht weiter aufgefallen war. Auch Sam spähte kurz zu den Lagerfeuern hinüber. Ob er Sehnsucht oder Befremdung empfand, konnte ich nicht beurteilen. Zu rasch richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf den ansteigenden Pfad, der mit Geröll übersät war.
»Wo sind eigentlich deine Stiefel geblieben?«, fragte ich ihn mit Blick auf seine nackten Füße.
»Vergessen«, antwortete er so leichthin, dass ich mich nicht traute, nachzufragen, wie man einfach seine Schuhe vergessen konnte.
Der Gang zur Steilküste erinnerte mich an das letzte Mal. Wieder einmal nahm ich meine Umgebung kaum wahr, nur, dass meine Gedanken jetzt nicht ausgeschaltet waren, sondern ununterbrochen um Sam kreisten, der mir einerseits nah war, mir andererseits jedoch zu entgleiten drohte. Immer wieder gleißte das Licht auf, das ihn umgab, und wollte mir den Jungen, der meine Hand hielt, entreißen. Doch wann immer es geschah, schenkte Sam mir auch sogleich einen Blick. Ein Bekenntnis, dass er nicht zulassen würde, dass die Brücke zwischen uns wieder eingerissen wurde.
Als wir oben angekommen waren, begann Sam nur ein paar Schritte vom Klippenrand Totenholz aufzuschichten, und nach einer kurzen Suche fand er einige Streichhölzer, die Rufus und er in einem Versteck für ihre gemeinsamen Abende zurückgelassen hatten. Hastig fraß sich das Feuer durch das trockene Holz und loderte hell auf. Er stellte sich so hin, dass das Licht auf ihn fiel. »Sag mir, was du siehst«, forderte er mich auf.
Ich zögerte. »Ich weiß nicht, ob ich das jetzt kann. Ehrlich gesagt habe ich Angst davor.«
»Das verstehe ich«, sagte Sam leise, trotzdem hörte ich die leise Enttäuschung in seiner Stimme. »Nur, wenn du dich schon vor dem Gedanken an das, was ich bin, fürchtest, kann ich nicht weitermachen. Ich habe versprochen, dir die Wahrheit zu sagen, aber du musst sie auch ertragen können. Ich bin auch ganz gut darin, Dinge zu erkennen: Du hast schon länger Zweifel, wenn du mit mir zusammen bist - du hattest sie schon, bevor ich verschwunden war. Liegt
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