Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
es an mir, oder ist es etwas anderes?«
Fast erschrak ich darüber, mit welcher Klarheit er das auf den Punkt gebracht hatte. Dabei zweifelte ich nicht an Sam und an meinen Gefühlen für ihn. Doch da war etwas anderes, das ich nur erfühlen konnte, aber nicht begriff, eine Warnung im Hinterkopf, die unablässig darauf hinwies, dass ich mich von diesem Jungen besser fernhalten sollte. Dass ihn eine Gefahr umgab, die jederzeit auch mich bedrohen konnte. Warum, verriet die Stimme mir allerdings nicht. Darum entschied ich mich dafür, sie zu ignorieren, und sah ihn aufmerksam an.
Das Erste, was mir ins Auge stach, waren Sams lang gewordene Haare, die sich an den Enden leicht wellten. Die Züge seines Gesichts waren härter geworden und zu gern hätte ich mir eingeredet, dass es am flackernden Feuerschein lag. Es ließ sich jedoch nicht leugnen: Sam war reifer geworden, nun fast schon ein Mann. Konnte so etwas in ein paar Monaten geschehen? Ich kannte die Antwort nur zu gut, schließlich hatte ich mich selbst durch die Ereignisse sehr verändert. Die Silhouette seines Körpers bestätigte meinen ersten Eindruck. Er war zwar immer noch hager, wirkte aber nichtsdestoweniger muskulöser, wie auch das deutlich enger sitzende Baseballshirt bewies. Ich versuchte meinen Blick an diesen reinen Äußerlichkeiten festzuhalten, da sie mir schon genug zusetzten. Sam war mir allein wegen des Altersunterschieds zwischen uns immer überlegen vorgekommen, aber nun war er kurz davor, den Sprung zum Erwachsensein zu tun, und ich war mir nicht sicher, ob ich ihm dorthin folgen konnte.
Sam stand still da, er zeigte eine Geduld, die beruhigend auf mich wirkte. Schließlich fand ich den Mut und sah noch genauer hin. Wie ein direkt vor mir aufleuchtender Blitz blendete mich seine Aura, um sich dann im nächsten Augenblick in weiches Gold zu verwandeln, das mich umschmiegte. Ich fühlte eine sanfte Berührung, die mich meine Angst vergessen ließ, und einen Herzschlag lang hätte ich schwören können, dass es Sam war, der mich umschlungen hielt. Auf eine Weise, wie es kein Mensch vermag. Doch er stand immer noch eine Armlänge entfernt vor mir und lieferte sich meinem Blick aus.
»Hast du mich gerade berührt?«, fragte ich trotzdem. »Ja«, antwortete er und lächelte verlegen. »Könnte man wohl so sagen. Hat es dir gefallen? »
»Das weißt du ganz genau!« Mein Ton fiel schnippischer aus als beabsichtigt, und Sam lachte kurz auf. Ich wollte mit einstimmen, doch dann wurde mir bewusst, dass er einen Weg benutzt hatte, um mich zu berühren, den es eigentlich nicht geben sollte. Schlagartig drehte sich etwas in mir um. Wenn es mir nicht möglichst schnell gelang, das, was auch immer mit ihm geschehen war, zu verstehen, würde ich trotz aller guten Vorsätze die Nerven verlieren. Ich brauchte Worte, an denen ich mich festhalten konnte, die dem Ganzen einen Sinn gaben. Sam deutete meine Reaktion richtig und fuhr sich hilflos mit der Hand über den Mund, als würde er seine Aufforderung bereits bereuen.
»Erklär es mir«, forderte ich ihn auf.
»Gut«, sagte er. »Ich habe es dir versprochen, obwohl ich mir nicht mehr sicher bin, dass es die richtige Entscheidung gewesen ist, wenn ich mir deine Verwirrung so anschaue. Aber dafür ist es jetzt wohl zu spät. Außerdem sollte ich mich beeilen, wenn ich dich vor Sonnenaufgang wieder zurückbringen will.«
»Wohin willst du mich denn bringen?«
Doch Sam hatte sich bereits abgewandt und blickte auf das schwarz wogende Wasser hinaus, auf dessen Wellenkämmen sich das Sternenlicht brach. Mit einer geschmeidigen Bewegung zog er sein Shirt über den Kopf und wickelte es sich sorgfältig um den Unterarm, wohl um die Symbole zu verbergen. Unwillkürlich trat ich hinter ihn, angezogen von der Zeichnung, die seinen gesamten Rücken bedeckte. Zwei riesige schwarze Flügel. Schwingen. Im Feuerschein sahen sie fast lebendig aus, als würden sie sich, noch während ich sie fassungslos anstarrte, von Sams Haut lösen und ausbreiten.
»Du hast dich tätowieren lassen?«, fragte ich, unsicher, ob ich diese Schwingen, die Rabenflügel ähnelten und dann doch wieder nicht, berühren durfte.
»Nein.«
»Aber …« Weiter kam ich nicht, denn Sam hatte sich bereits zu mir umgedreht und seine versehrte Hand um meinen Nacken gelegt. Er zog mich dicht an sich heran und sogleich vergaß ich meine Fragen, als er sich gegen mich drängte. Unwillkürlich seufzte ich auf. Als ich seine Lippen nah an meiner Wange
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