Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
doch ich hatte beobachtet, wie sich kräftige Muskeln und Sehnen unter seiner weißen Haut abzeichneten, wenn er sich bewegte. Je länger ich ihn kannte, desto mehr erinnerte er mich an eine Raubkatze. Auch seine Lust an Dominanzspielchen passte da bestens ins Bild.
»Ich wollte dich gestern Abend aufsuchen, aber du warst nirgends zu finden«, sagte er auf seine kontrollierte Art, die sämtliche Emotionen verdeckte. »Wenn es selbst mir unmöglich ist, dich zu erreichen, dann gibt es dafür eigentlich nur eine Erklärung: Du bist in die Menschenwelt gewechselt. Und das, obwohl dir ausgiebig erklärt worden ist, warum wir Schattenschwingen dieser Kunst nicht nachgehen.«
Ich unterdrückte das Bedürfnis, reumütig den Kopf hängen zu lassen, weil ich ertappt worden war. Asami hatte mich ohnehin schon zu sehr in die Ecke gedrängt, und das nagte aller Vernunft zum Trotz an mir. »Ich habe auch genau zugehört, als es mir erklärt worden ist. Und ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich allem Anschein nach nicht um ein Gesetz, sondern bloß um eine Art Richtlinie handelt.«
»Eine Richtlinie? Selbst wenn das so sein sollte, ist dir nichts Besseres eingefallen, als sie sofort zu missachten, kaum dass sich dir zum ersten Mal die Chance dazu geboten hat?«
Mir lag die Ausrede auf der Zunge, dass der Wechsel nicht mehr als ein Experiment gewesen sei, mit dem ich herausfinden wollte, ob ich den Bannspruch auch wirklich beherrschte. Doch ganz gleich, wie überlegen Asami mir auch sein mochte, ich verspürte nicht das geringste Verlangen, ihm zuliebe zu lügen. Außerdem hätte es mir auch nicht wirklich geholfen, ihn dieses eine Mal zu beruhigen. Denn ich würde weiterhin wechseln, genau gesagt, in ein paar Stunden bereits wieder.
»Ich bin nicht gewechselt, um meine Verachtung für euch Wächter und eure Spielregeln unter Beweis zu stellen, sondern, weil es für mich persönlich wichtig ist. Wenn es für mich nicht von solcher Bedeutung wäre, würde ich liebend gern darauf verzichten, deinen Zorn auf mich zu ziehen.«
Asami verschränkte die Arme vor der nackten Brust und musterte mich eingehend. Ich wusste, dass es dumm von mir war, gerade jetzt an meinem Wunsch zu wechseln, festzuhalten. Aber ich konnte nicht anders. Seit ich die Sphäre betreten hatte, fühlte ich mich zum ersten Mal in meinem Leben eins mit mir. Und besonders jetzt, da ich auch noch Mila an meiner Seite wusste, wollte ich mir das auf keinen Fall von jemandem wie Asami nehmen lassen, der sich keinen Deut für meine Beweggründe interessierte.
»Du willst dich also weiterhin über meine Einwände hinwegsetzen. Glaubst du, dass ich das ohne Weiteres akzeptieren werde?«
Natürlich entging mir der drohende Unterton nicht. Ich schloss die Augen und zählte innerlich bis zehn. Was konnte Asami mir schon Schlimmes antun? Er konnte schließlich nicht Stunde um Stunde an meiner Seite bleiben und mich notfalls gewaltsam vom Wechseln abhalten. Als Erster unter den Wächtern war er zwar eine Leitfigur, aber kein Herrscher. Denn streng genommen waren die wenigen Schattenschwingen, die es gab, ein eher verstreuter Haufen aus Einzelgängern. Soweit ich seit meiner Begegnung mit Kastor gesehen hatte, hatten die meisten sich in ihrem Alleinsein eingerichtet, in einem Zustand, der dem Schlaf sehr nahe war. Ich wollte aber nicht vor mich hindämmern, sondern mein Leben als Schattenschwinge in vollen Zügen genießen.
»Hör zu, ich bin ja bereit, mich mit deinen Einwänden auseinanderzusetzen. Aber wenn du mir lediglich deinen Willen aufzwingen willst, dann hast du ein Problem mit mir. Also, versuchen wir es noch einmal ganz in Ruhe: Du willst nicht, dass ich wechsle. Warum?«
Unter dem Blick, mit dem Asami mich bedachte, kam ich mir vor wie ein begriffsstutziges Kind. Dann schnalzte er abfällig mit der Zunge. »Wir sind Schattenschwingen, uns gehört die Sphäre, so wie den Menschen die Welt gehört. Das zu vermischen, ist falsch.«
»Und genau dieser Punkt leuchtet mir nicht ein. Ein Teil von uns Schattenschwingen ist unübersehbar menschlich. Unser Leben beginnt in ihrer Welt. In welchem Land bist du eigentlich geboren worden? In Japan, nehme ich an.«
Asami sah aus, als hätte ich ihm mit dieser harmlosen Frage eine Beleidigung an den Kopf geworfen. Auf seiner ansonsten makellosen Haut breiteten sich rote Flecken aus und seine ohnehin schon schmalen Lippen verwandelten sich in einen geraden Strich. Mit einer solchen Reaktion hatte ich nicht
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