Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
rüberzukommen und keine von diesen Übermüttern zu sein, die einem eher wie Kontrollfreaks vorkamen. Vielleicht hätte ich sie doch necken sollen, denn der Blick, mit dem sie mich als Nächstes betrachtete, war eine regelrechte Bestandsaufnahme. »Die Party war wohl ein Volltreffer, wenn ich mich nicht täusche«, stellte sie schließlich fest. Dabei schwang so ein erleichterter Ton mit, dass ich am liebsten gefragt hätte, was genau sie in meinem Gesicht erkannt hatte.
»Ja«, sagte ich, nachdem ich meinen Toast gebuttert und hineingebissen hatte. Ich wollte etwas Zeit schinden, um mir die Worte zurechtzulegen. Ich durfte Sam ja nicht erwähnen, wollte jedoch, dass meine Mutter wusste, dass es mir gutging. Dass sie sich solche Sorgen um mich gemacht hatte, setzte mir immer noch zu. »Es ist genau die richtige Entscheidung gewesen, zum Strand zu gehen. Die Stimmung war super und es waren Leute von unserer Schule da, die wirklich was erlebt haben während des Sommers.« Ausgiebig gab ich Bernhards Adria-Geschichten zum Besten, um meine aufmerksame Mutter darüber hinwegzutäuschen, dass der wichtigste Teil der Nacht abseits der Party stattgefunden hatte. Sogar mehr als abseits - in einer anderen Welt. Allein der Gedanke brachte meinen Puls zum Rasen, weshalb ich zu einem anderen spannenden Thema umschwenkte, bevor ich mich noch verriet. »Lena hat übrigens besonders doll auf die Pauke gehauen. Sie will es zwar nicht zugeben, aber ich bin mir sicher, dass sie mit Julius rumgeknutscht hat, kaum, dass ich sie aus den Augen gelassen habe.«
»Julius Regard, der Sohn von Malis Regard, die beim Elternabend immer so penetrant darauf besteht, dass das Protokoll eingehalten wird? Mit der Helmfrisur und diesem schrecklichen Geländewagen, der aussieht, als wäre er dafür gemacht, alles überzumangeln, das nicht motorisiert unterwegs ist?« Und schwups, hatte meine Mutter angebissen.
Ich grinste von einem Ohr bis zum anderen, während ich mein hartes Ei in Scheiben schnitt und auf dem Toast verteilte. »Julius Bisher-Unsichtbar hat einige Wochen in London verbracht und ist als ganz neuer Mensch zurückgekehrt. Jedenfalls hat er genügend Tricks auf Lager gehabt, um Lena nicht nur zu unterhalten, sondern sie voll in Beschlag zu nehmen. Du kennst Lena: Auf Partys darf normalerweise nur ich das, ansonsten will sie volle Abwechslung.«
»Gibt’s ja nicht.« Meine Mutter lachte laut auf und mir wurde bewusst, dass ich dieses volle Lachen schon viel zu lang nicht mehr in unserem Haus gehört hatte. Nun wollte ich noch mehr davon.
»Wenn mich nicht alles täuscht, hatte Julius schon länger ein Auge auf Lena geworfen und die Auszeit genutzt, um sich in einen Vorzeige-Punk zu verwandeln. Würde mich nicht wundern, wenn er Lena mit irgendwelchen intimen Piercings beeindruckt hat. Du weißt schon, an Stellen, die seine Mutter nicht zu sehen bekommt, damit sie keinen Herzinfarkt erleidet.«
»Intime Piercings, igitt«, sagte meine Mutter, grinste aber dabei.
Ich saß einfach nur da und strahlte sie an. Die Sommermonate, die wie von einem Trauerschleier bedeckt gewesen waren, waren mit einem Mal vergessen. Alles fühlte sich wieder richtig an, wenn nicht sogar besser. Wir alle hatten seit Sams Sturz von der Klippe ein Tal durchschritten und es überstanden. Gemessen an dem Schmerz der letzten Wochen war das, was Sam und mich noch erwartete, ein Spaziergang. Die Sphäre war verstörend, aber ich würde mich an sie gewöhnen. Und Sam würde bestimmt einen Weg finden, um auch Teil meiner Welt zu sein. Zwar wirbelten mir unzählige Fragen durch den Kopf - wer die Schattenschwingen eigentlich waren und welcher Zusammenhang zwischen der Sphäre und unserer Welt bestand, zum Beispiel - aber ich verspürte nicht das Bedürfnis, alles auf einmal begreifen zu müssen. Dafür war diese neue Welt, die sich gerade vor mir aufgetan hatte, allem Anschein nach zu komplex. Das machte aber nichts, schließlich hatten Sam und ich alle Zeit der Welt, um diesen vielen Fragen nachzugehen, nun, da wir das Schlimmste hinter uns hatten. Wir würden unseren ersten gemeinsamen Spätsommer genießen und die verlorenen Stunden nachholen, das nahm ich mir fest vor. Nun würde alles gut werden, niemand von uns sollte mehr leiden.
Die Nachmittagssonne war immer noch voller Kraft und brannte auf meinen nackten Schultern, während ich energiegeladen in die Pedale trat. Ein wunderbares lebendiges Gefühl, genau wie das Summen in meinem Bauch, die reine
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